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Johann Jakob Wagner to Johann Gottlieb Fichte

d. 29ten Xbr. 99.
Ich bin nun mit L. auf den fatalen Punkt gekommen, wo wir uns gar nicht mehr achten können. Er vergaß sich, als wir über Freundschaft und über Menschenumgang sprachen, und erklärte unerwartet, daß man sich mit Menschen gar nicht einlassen müsse, als so weit man sie zu irgend einer Absicht brauchbar finde. Ich ließ ihn das Empörende dieser Denkungsart fühlen, indem ich ihn als Objekt derselben sezte; – er erröthete, wurde verwirrt, und sagte endlich, man müsse überall Absicht haben, und überall zwekmäßig handeln, und nur nach meiner träumenden Moral aus Kants und Fichte’s Schule seyen die Menschen als Selbstzweke zu respektiren. Die Herren hätten aber ihre Moral blos auf der Studirstube ausgehekt und nicht recht zu gesehen, wie es im Leben zugeht. – Dieses grelle Geständniß, statt mich zu empören, bewirkte gerade das Gegentheil in mir; ich fühlte eine heitre Stille in meiner Seele und sprach ganz gelassen, indeß er äng[st]lich strebte, mich keine Rede vollenden zu lassen. Aber leider! ist nun das Verhältniß zwischen mir und ihm entschieden. Ich weiß, daß man etwas als Grundsatz äußern kann, worüber man sich nur gerade in dem Momente selbst ertappt, und so erscheint oft als bleibende Maxime des andern, was nur eben erst sich bei ihm als Maxime einnisten wollte. Allein bei L. ist mir die Möglichkeit dieser Entschuldigung genommen. Alle seine Handlungen gegen mich und andre, seine Denkungsart gegen das andre Geschlecht, kurz alles, was ich an ihm beobachten konnte, läßt sich aus keiner andern Maxime, als der, der Zwekmäßigkeit für Absichten, oder was gleichviel ist, dem Egoismus erklären. Er ist ein Mann, der nur dann eine Natur zeigt, wenn er sich vergißt, was äusserst selten geschieht; ausserdem ist er immer, was er seyn will seinen jedesmaligen Absichten gemäß. Nie sah ich einen so gewandten Mann, dem auch seine Gesichtszüge so zu Gebot standen. Ich müßte ihn als einen der freyesten Menschen ehren, wenn seine Willkühr Wille wäre. [/]
Von einer andern Seite ist mir der Mann ein interessanter Gegenstand meines psychologischen Studiums. Er liebt nämlich so sehr das Erhabene, und schaut es doch mit einer Kälte an, vor der [mir] graut, und für das Schöne hat er ganz und gar keinen Sinn. Das Grosse, Unermäßlich ausgedehnte, Erhabene zieht ihn ausserordentlich an, ohne jedoch in ihm das Interesse zu erregen, das Kant als Wirkung des erhabenen rühmt. Eher scheint es mir ein entgegengeseztes zu seyn. Es ist nicht das Gefühl, daß über dem Verstande in dem Willen noch ein Vermögen des Unendlichen liegt, was ihm Interesse an dem Erhabenen giebt; es ist, wie mir scheint, der Kizel, daß die Sphäre für die Verstandesthätigkeit unbegränzt sey, und daß auch allenfalls im Monde noch trigonometrische Messungen sich anstellen lassen. Er ist voll des theoretischen Interesse und bezieht alles auf dieses. – Lachen muß ich, wenn er sich Mühe giebt, an Göthe Geschmak zu finden, weil das allgemeine Urtheil für ihn entschieden hat, und L. doch nicht leiden kann, daß er etwas nicht so beurtheilen sollte, wie es wirklich ist. Bey Göthe, sagt er dann unwillig, ist so ein unwillkührliches Hin= und Herwanken, kein fester Gang wie bey Schiller.
Metadata Concerning Header
  • Date: Sonntag, 29. Dezember 1799
  • Sender: Johann Jakob Wagner ·
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Nürnberg · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 4: Briefe 1799–1800. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1973, S. 175‒176.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: B 202
Language
  • German

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