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Karl Leonhard Reinhold to Johann Gottlieb Fichte

Kiel den 1. März 1800.
Ihr Brief vom 8ten, der erst den 20sten bei mir anlangte, hat mich sowohl durch die neue Probe Ihres Wohlwollens, als durch die Idee der wichtigen, auch unserm Zeitbedürfnisse so sehr angemessenen litterarischen Unternehmung, an der Sie mich Theil nehmen lassen wollen, sehr erfreuet. Ueber die Zweckmäßigkeit und Ausführbarkeit der Sache selbst bin ich mit Ihnen einverstanden. Ueber die Art und Weise des thätigen Antheils, den Sie mir dabei zugedacht haben, haben Sie sich noch nicht erklärt, und so weiß ich nicht, ob und in wiefern ich Ihre Einladung anzunehmen vermag oder nicht. Es versteht sich von selbst, daß Sie mich keineswegs als Mitherausgeber dem Publikum genannt wissen wollen, wenn ich’s nicht wirklich bin; und wie ich’s bei der großen Entfernung unserer Wohnörter wirklich seyn könne – sehe ich bis jetzt nicht ein. Muß ich nicht jedes Manuscript, das ich herausgebe, gelesen haben? Wird dazu meine Muße zureichen? und wird durch die Versendung der Manuscripte hieher nicht der Fortgang der Sache selbst aufgehalten?
Bekanntlich sind wir über den Ton bei der [Beuteilung] Andersdenkender lange nicht so einverstanden, daß einer von uns – Sie oder ich – des andern Urtheil über diesen Ton, ohne dieses Urtheil und das Beurtheilte vorher zu kennen, zu dem seinigen machen möchte. – Haben Sie diese Bedenklichkeiten bedacht und gehoben, so muß ich gestehen, [/] daß ich sie um so weniger zu heben vermag, je mehr ich sie bedenke. –
Ich habe mir nun Ihre Bestimmung des Menschen von Hamburg kommen lassen, und habe sie schon einmal mit wahrem Heißhunger verschlungen – aber eben darum weder prüfend genossen, noch genießend geprüft.
Sie enthält viel Neues und Lehrreiches für mich – und einiges noch nicht Verstandene. – Aber ob Jemand, der nicht entweder Philosoph von Profession, oder doch ein sehr geübter Dilettant ist, es wirklich verständlich finden könne, vermag ich noch nicht zu beurtheilen – aber doch muß ich bis jetzt daran zweifeln; und die Urtheile, die mir bisher von mehrern Seiten her zu Ohren gekommen sind, sind so beschaffen, daß sie mich nur in diesem Zweifel bestärken müssen. Indessen gehe ich noch heute oder morgen an die zweite Lektüre, die ohne Zweifel jenen ersten Eindruck, den das Buch auf mich gemacht hat, berichtigen wird.
So meisterhaft ich auch, ja bewunderungswürdig – unter Voraussetzung der einmal für den Gedankengehalt gewählten Polhöhe Einkleidung und Darstellung in der Bestimmung des Menschen finde; so wenig kann ich mir selbst verbergen, – daß mir die letzte Apologie Ihrer Religions=Philosophie im Phil. Journale in Rücksicht auf die Aufklärung des Hauptpunktes des ganzen Mißverständnisses noch ungleich mehr gelungen scheint. Dieser Aufsatz wurde neulich bei mir in einer ziemlich gemischten Gesellschaft von Professoren, Geistlichen und Offizieren vorgelesen, und einhellig, als völlig verständlich und in Beziehung auf ihren Endzweck befriedigend gefunden. Aber der Ton, in welchem Sie mit [Ihren] Correspondenten von Ihren Gegnern überhaupt (die doch so sehr verschiedenartig sind) sprechen, wurde freilich wieder allgemein gemißbilliget. Wie kommt es denn, daß [Ihr] Gedankengang, so bald Sie nicht im Geschäfte der methodischen Deduction begriffen sind, – so gar auffallend von dem Gefühl Ihrer persönlichen [/] Ueberlegenheit auszugehen scheint? Ihr Individuum als solches bemächtigt sich ihm selber unvermerkt des Standpunktes, [den] Sie selber nur dem reinen Ich – in welches sich das Ich des Philosophen verlieren soll, angewiesen haben, und spricht im Namen desselben, was ihm doch nur individuelles Selbstgefühl eingeben kann. – Die wirklichen Stümper und Halbköpfe unter Ihren Gegnern verstehen Nichts von allem, was Sie ihnen so beredt vortragen, als daß dadurch ihre Selbstliebe sich gekränkt fühlt, und die Bessern unter den Gegnern Ihrer Philosophie werden verstimmt und zum Verstehen des Wesentlichen unfähig gemacht.
Immer leuchtet es mir heller ein, daß beim Philosophiren und beim Vortrag von allem, was Philosophem heißt, das Gefühl der Persönlichkeit des Philosophen schlechthin getilgt werden, durchaus verstummen muß. Sobald dieses Gefühl im Philosophen eintritt, muß es mit dem Gedanken begleitet seyn, – daß es als Individuum irren kann, daß es als solches von andern lernen könne und müsse, und daß es außer seinem System noch viel Wahres und Reelles geben könne, wovon sich das jenes System allein im Auge habende Individuum Nichts träumen läßt. Lieber Fichte, ich weiß, wie gar wenig ich Ihnen als Philosoph bin und seyn kann – wenigstens seit mehrern Jahren her – denn es gab eine Zeit, wo Sie mir vielleicht zu viel in dieser Rücksicht zutrauten. Aber ich weiß auch, daß Ich Ihnen als Mensch etwas werth bin, und spreche mehr als Mensch zum Menschen, als Freund zum Freunde.
Noch einmal beschwöre ich Sie, Bardili’s Grundriß einigemal durchzustudiren, wäre es auch nur dem Freunde Reinhold zu Gefallen.
Sie werden schon beim erstenmale finden, daß Ihre Philosophie, wo nicht dem innern Geiste – doch gewiß dem – dem Geiste so unentbehrlichen Buchstaben nach gewinnen müsse, wenn Sie dieses Buch nicht so bald wieder [/] aus der Hand legen. – Ich lese es nun das zehntemal. – Ihren Belehrungen darüber sehe ich mit Sehnsucht entgegen. Jacobi ist schlechterdings kein Lavaterianer oder desgleichen, das weiß ich – der ich ihn durch so vielfältigen mündlichen und schriftlichen Gedankenverkehr genau kenne – mit größter Gewißheit; – und was Sie darüber gesagt haben, kann nicht anders als ihm wehe thun. Ihr versteht einander nicht. – Das ist es alles – wenigstens in dem Grade nicht, als Ihr euch zu verstehen glaubt.
Uebrigens ist es nur zu wahr, daß Jacobi Ihre Philosophie nur zur Hälfte wenigstens in so ferne kennt, als er weder Ihr Naturrecht noch Ihre Sittenlehre – nicht nur nicht fleißig studirt – sondern kaum durchblättert, und sicher nicht ein einziges Mal durchgelesen hat. Ich weiß es wenigstens nicht anders. Ich habe ihn bei jeder unserer Zusammenkünfte zum Lesen jener beiden Werke aufgefordert; er hat es jedesmal versprochen, und jedesmal bedauert, daß er ohne seine Schuld nicht habe dazu kommen können.
Der Archimetrist schreibt mir, er habe zu Berlin Ordre gegeben, Ihnen sein Buch in seinem Namen zuzusenden.
Leben Sie wohl, lieber verehrter Fichte, und haben Sie Geduld mit
Ihrem
Reinhold.
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 1. März 1800
  • Sender: Karl Leonhard Reinhold ·
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Kiel · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 4: Briefe 1799–1800. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1973, S. 235‒238.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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