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Johann Gottlieb Fichte to Ignaz Aurelius Fessler

V. H. d. 10. Jun. 1800.
Geliebter Bruder,
Ich will dem Verlangen Ihres leztern Schreiben gemäß für ein Jahr die gewünschte Voraussetzung von Ihnen machen, und sogar dieses Jahr von dem verwichenen Sonnabend an datiren.
Vor der Hand haben Sie in demselben Schreiben Ihren Charakter schon stark genug gezeichnet; das Verhältniß bestimmt, das ich gegen Sie einnehmen muß; und manches Misverständniß aufgehoben, wodurch ich Ihnen unrecht that. Sie erklären, das Senekaische „incorruptus vir sit – – maneant illi semel placita, nee ulla in decretis ejus litura sit etc.“ – sey stark in [Ihre] Totalität übergegangen. In diesem Falle müste ich freilich an Ihnen für einen Theil Ihrer Selbstheit halten, den man Ihnen nicht nehmen dürfe, was ich an jedem andern für einen Fehler genommen hätte, von dem er sich bessern müsse, und was ich auch bisher an Ihnen dafür genommen habe. Durch dieselbe Erklärung wären auch alle übrige Punkte desselben Schreibens völlig erledigt. Mit Ihnen müste man sich nie in Polemik einlassen: es kann bei einem Manne von solchen Grundsätzen zu nichts führen, als ihn zu ärgern; was ich gegen keinen Menschen, und am wenigsten gegen Sie thun möchte.
Mein ganz entgegen gesezter Grundsatz, den Sie mir immer erlauben mögen in Versen auszudrüken, ist folgender: [/]
Nichts wähn er (der Mensch) sein: Besizthum ist ihm Schranke,
Ruh Tod; ein ewger Kampf der Freiheit Wesen.
Es kümmr’ ihn nie, was hinter ihm versunken.
Vernichtend, schaffend, wechsle der Gedanke.
Das reinste sey zum Flammengrab erlesen,
Wo ihn, verjüngend, treffe Gottes Funken.
Und hierüber sage ich nicht: so bin ich Fichte, dies ist meine Individualität; welches überall nichts bedeutet; sondern so soll der Mensch schlechthin seyn, und wenn ich oder ein andrer nicht so ist; wenn er sich es zum Grundsatze macht, ut maneant illi semel placita, so ist er nicht, wie er seyn sollte.
Sie sind so gütig, mir vielseitige und liberale Ansichten zuzuschreiben. Bei den Ansichten, welche die meinigen sind, kann ich sehr wohl begreifen, wie man seyn könne, wie Sie sich selbst schildern, und könnte mit einem solchen Manne in einer Menge von Verhältnissen sehr vergnügt leben; aber ich würde in die unangenehme Lage kommen, einen Theil der Hochachtung, den ich Ihnen zu zollen im Begriffe war, zurükhalten zu müssen, wenn Sie nicht gerade dadurch, daß Sie fähig sind, diese Seite an [/] sich zu erkennen, und Sie, zufolge des Zusammenhanges in Ihrem Briefe, nicht als die empfehlendste aufzustellen, zeigten, daß Sie sich über dieselbe wohl erheben, Sie sonach auch ablegen können, und werden. Und diese Offenheit in der Beurtheilung Ihrer selbst sichert Ihnen wieder meine ganze Hochachtung zu.
Daß ich einen so wichtigen maurerischen Gegenstand, wie der zwischen uns zur Sprache gekommene, zuerst mit keinem Menschen, als Ihnen, debattire, sollte Ihnen gefallen. Was ich thun werde, und ob ich je etwas thun werde, wird sehr von den Umständen, den Federungen, und der Empfänglichkeit der Brüder abhangen. Ich habe darüber noch nichts beschlossen: den Vorschlag einer durchgeführten Fiction that ich nie im Ernste, sondern um Ihnen zu zeigen, wohin man meines Erachtens gerathen müste, wenn man nicht mit der reinen Wahrheit durchaus herausgehen wolle.
Ich rechne fest darauf, daß die Kunde von [Differenzen] zwischen uns, und von welcher Natur dieselben seyen, lediglich zwischen uns beiden (Darbes und Fischer ausgenommen) bleibe. Ich für meine Person werde keinen bei der Loge etwas ahnen lassen; würde mich aber freilich tapfer vertheidigen, wenn man von der andern Seite nicht dieselbe Discretion beobachtete.
Die Debatten über diesen Gegenstand bin ich erbötig fortzusetzen, so lange Sie wollen, oder abzubrechen, sobald Sie wollen; auch schriftlich, wenn es Ihnen gefälliger ist, ohnerachtet ich zur Zeit Ersparung mündliche Verhandlungen vorziehen würde.
Da zu wünschen ist, daß die bisherigen schriftlichen Verhandlungen beisammen seyen, Sie anderweitige große Papiersammlungen, ich aber Raum genug habe, so wünschte ich, daß Sie mir das jezt beifolgende, so wie meine er[/]sten Bemerkungen wieder zurüksendeten, und daß die Papiere bei mir, zur gemeinschaftlichen Einsicht, aufbewahrt würden.
Mit vollkommenster Hochachtung, und brüderlicher Liebe
Ihr
ergebenster
Fichte.
Weitere Bemerkungen
Meine Gegensätze gegen des Br. Feßler System über die lezten Aufschlüsse reduciren sich auf folgende zwei Hauptpunkte.
1) Es kann auf diesem Wege keine historische Wahrheit gefunden werden.
2) Selbst wenn sie es könnte, so wäre das kein befriedigender Aufschluß für einen geheimen Orden.
Ad 1. zeigt der Br. Feßler, indem er seine mündlich gegen mich geschehne Aeußerung, daß nach ihm es überall keine historische Wahrheit gebe, schriftlich zurüknimmt, durch die That, daß es ihm, freilich ohne sein deutliches Bewußtseyn, an einem Begriffe von historischer Wahrheit gänzlich fehle; daß es sonach für ihn allerdings keine gebe, in den Worten: „Ich glaube fester an Themistocles Schlacht, – Hussens Verbrennung, und Carls Enthauptung wegzuwerfen.“
Spuken da nicht die leider nicht ungewöhnlichen Begriffe von Wahrscheinlichkeit, von höhern und niedern Graden der Wahrscheinlichkeit, von einem Glauben, der ein rechter ganzer Glaube ist, und von einem andern Glauben, der freilich kein ganzer ist, aber darum doch – ein stattlicher Glaube? – als ob irgendwo die Wahrheit aus Fliken von Gründen zusammengesezt, und nun mit der Elle gemessen würde. Meiner philosophisch erweißlichen Ueberzeugung nach kann man auch in der Geschichte nur entweder wissen, oder nicht wissen; und im ersten Fall wissen, entweder daß etwas war, oder daß es nicht war; und es giebt auch hier keinen Mittelzustand, und kein Schweben zwischen Seyn und Nichtseyn; und der ernsthaft denkende Mann resignirt sich kalt und fest, nichts zu wissen, noch wissen zu wollen über das, wovon er wohl weiß, daß man nichts wissen kann.
Factum ist nur das, was [/] in irgend einen menschlichen Sinn gefallen. Geschichte ist Ueberlieferung solcher Sinneneindrüke an andere, in deren Sinn dasselbe nicht fiel. Historisch erwiesen ist mir dasjenige Factum, ohne welches ein anderes, das in meine Sinne fällt, so gar nicht seyn konnte, wie es ist. Jedes Factum, von welchem die leztere Bedingung nicht gilt, ist mir unerweißlich, und ich werde darüber nie, weder für noch wider, etwas behaupten. Jedes Factum, nach dessen Voraussetzung etwas, das in meine Sinne fällt nicht so seyn könnte, wie es wirklich ist, ist mir erwiesen falsch.
Auf den SinnenEindruk reducirt sich sonach zulezt alle historische Wahrheit: und dieser ist kein aus Theilen zusammengeseztes, sondern ein positives, untheilbares, das da ist oder nicht ist.
So ist mir z. B. Bruder Feßlers GrosMeisterthum um kein Haar wahrer und gewisser, als Cicero’s Consulat, die Catilinarische Verschwörung, u. dergl. – denn die in diesem Consulate gehaltenen Reden des Lezteren, die nur ein solcher Mann zu einer solchen Zeit verfaßt haben kann, liegen vor meinen Augen. Ueber Numa’s Gesezgebung aber – habe ich keinen Glauben wegzuwerfen, indem ich, seitdem ich Begriffe von historischer Wahrheit habe, nie einen solchen Glauben gehabt. Ich weiß gewiß, daß man darüber nicht wissen kann, weder daß es sey, noch daß es nicht sey: und daß man, falls nicht etwa neue Documente entdekt werden, darüber nie etwas wissen wird.
Die Thatsache, die in unser aller Sinne fällt, sind die Maurerischen Gebräuche, Formeln, Rituale. Die Geschichte der Maurerei, wenn sie wahre Geschichte, und nicht ein Meinen und Wähnen, also kurz – eine Fiction ist, nur daß der Urheber derselben zuerst sich selbst täuschte, ehe er andere zu täuschen versucht, – diese Geschichte muß die gleichfalls in wirklich lebender Menschen Sinne gefallenen Thatsachen aufstellen, durch welche allein die erstern so werden konnten. Es muß – ich glaube nicht, daß dies eine für den Br. F. überflüssige Exposition der Aufgabe sey – beides der gegenwärtige Zustand – und der historisch verfolgte Ursprung dieses Zustandes so genau zusammenpassen, daß jeder Mensch von gesundem Menschenverstande diesen Zu[/]stand nur aus einem solchen Ursprunge begreift, und umgekehrt, aus einem solchen Ursprünge diesen Zustand ableiten und folgern könnte, sogar ohne unmittelbare Wahrnehmung.
Daß Sie dies sich nicht einmal vorgenommen haben, daß Sie es nicht leisten können, noch werden, gestehen Sie selbst in den mit [ ] bezeichneten Stellen Ihrer Beantwortung so unverholen, daß es hierüber keines Dispüts mehr unter uns bedarf.
Wir sind nicht über die Anwendung der Principien; wir sind über die Principien selbst uneins. – Der gesunde Menschenverstand, mit welchem Sie es in der Maurerei zu thun haben werden, ist hierin auf der Seite des Philosophen, ohne seine Sache gerade so auseinanderzusetzen; er will Gewißheit, keine blosse Muthmaassung. Sie werden es erleben, daß Sie nicht befriedigen.[1] An die Versicherung des Br. F. daß er selbst an seine Deduction der Maurerischen Mysterien glaube, und daß er sie, ohne für seine Gelehrten Reputation zu fürchten, druken lassen wolle – muß ich selbst glauben. Dies beweist nur für seine Treue, keineswegs aber für seine Gründlichkeit, und seine Urtheilskraft[2] Daß Br. F. bei Bearbeitung seiner Deduction „keinen andern Gang gehen könne, als den von mir angegebnen,“ weiß ich aus der Natur der Sache. Auch wünschte ich, daß Br. F. nicht so häufig wieder vergässe, und mir unter die Augen abläugnete, was er mir erst gestanden hat. So hat er in seiner lezten mündlichen Unterredung über diesen Gegenstand in Gegenwart der Br. Br. Fi[/]scher, und Darbes mir gestanden, daß er noch keinen Uebergang von den Templariern zu der heutigen FreiMaurerei gefunden habe, daß es sich aber schon werde machen lassen.[3] Hat er nicht wenigstens bei diesem Gliede der Kette schon voraus im Auge, was er beweisen will; und muß er es nicht haben, wenn ihm nicht seine ganze Verkettung der Essäer, Gnostiker, Manichäer, Templarier für die Geschichte unsrer Maurerei verlohren gehen soll? Ob es bei der schon geschehnen Verkettung der so eben genannten Glieder anders hergegangen sey, wird sich am besten ersehen lassen, wenn das Ganze da ist.[4]
Ad. II. giebt Br. F. in den mit [ ] bezeichneten Stellen unvermerkt zu, was ich behauptete. Er habe empfangen, erhalten, was er gebe. Er suche nur die Beweise dafür in vorhandenen historischen Quellen. Er gebe sonach allerdings etwas, das nur im Orden zu finden sey; und das einzige, was dieses nur da zu findende, zu seyn vermag, Tradition.
Es ist hierbei die Frage: [/] woher und auf welchem Wege haben es diejenigen erhalten, die es dem Br. Flr. gaben. Durch Studium öffentlich historischer Denkmäler; oder auch durch eine Tradition, die bis zu ihrem Ursprunge hinauf nirgends aus öffentlich historischen Denkmälern geflossen sey. Ist das letztere der Fall, so leisten Sie ja allerdings, was ich fodere, was, meines Erachtens der Geweihte eines geheimen Ordens fodern muß; und Sie haben dann nur bei Zeiten darüber ernstlich nachzudenken, wie Sie die ununterbrochne Kette, sowie die Treue und Reinheit der Ueberlieferung zu beweisen gedenken.
Ist das erstere der Fall, so befriedigen Sie nicht: denn es ist ganz einerlei, ob Sie, oder ob Ihr Vorderglied, oder dessen Vorderglied, u.s.f. aus öffentlich historischen Denkmälern geschöpft, und nun ein Resultat, das jeder Ungeweihte auch hätte ziehen können, verborgen und zum Geheimniß gemacht hat. – Sie befriedigen nicht: und [da] Sie dies doch noch nicht laut gestehen wollen,[5] so führe ich hier den Beweiß noch ein wenig deutlicher:
a) Wir haben ja wirklich ein wesentliches und ausschliessend eigenes Besizthum, das nur durch mündliche Tradition fortgepflanzt wird; unsre Gebräuche und Rituale.
Nur durch mündliche Tradition, sage ich. Wir verbieten Mittheilung durch Druk, und Schrift. Wir desavouiren die gemachten Abdrüke, und erkennen keinen für einen Maurer, der nur auf diesem Wege Kenntnisse sich verschaft hätte.
b) Wir wollen uns theils von der Aechtheit dieser mündlich überlieferten G. u. R. überzeugen; theils [/] über ihren Ursprung und ihre wahre Bedeutung unterrichten.
c) Dieses kann nur geschehen durch eine Geschichte der Tradition, durch welche sie uns überliefert sind.
d) Diese Geschichte einer bloßen Tradition kann offenbar auch nur bloß tradirt seyn.
Ich weiß nicht, ob die Auserwählten unsers I. O. klar eben so schliessen: daß aber ihren Erwartungen dunkel dieser Schluß zu Grunde liegt, glaube ich an ihnen bemerkt zu haben.
Sind wir nun nicht in Besiz einer solchen Tradition, so bleibt, meines Erachtens, nichts übrig, als ihnen unverholen die reine Wahrheit zu sagen, daß wir überall nichts wissen, nichts haben, und erst durch unsre eigne Arbeit in das uns seinem Ursprünge nach unbekannte, etwas hineinlegen wollen.[6]
Nur [noch] dieses Eine. Sie berufen sich über die Art, wie Sie zu Ihren Kenntnissen gekommen, auf das Jahrbuch der R. Y. p. 23. dessen Nachrichten durch Rhode nach Ihrem eignen Berichte niedergeschrieben worden. Sie haben dasselbe mündlich gegen mich gethan, und mir die Namen Born und M. genannt. Ich wünschte sehr, daß Sie wenigstens gegen mich, und noch einige andere, offener zu Werke gingen: und glaubten, daß ich noch nicht vergessen habe, was Ihnen am 19ten May; während unsers Spaziergangs an der Spree über den wahren Ursprung Ihrer maurerischen Kenntnisse gesagt worden, dem Sie nicht widersprechen,[7] was Sie selbst, in Absicht Borns und Bode’s als Todter, die nicht widersprechen könnten, gesagt,[8] [/] daß Sie ferner voraussetzten, daß ich durch Böttiger sehr wohl wissen dürfte, woher das Beste, das Sie den Auserwählten geben können, komme.[9]
Metadata Concerning Header
  • Date: Dienstag, 10. Juni 1800
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Ignaz Aurelius Fessler ·
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 4: Briefe 1799–1800. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1973, S. 262‒268.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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