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Samuel Ernst Stubenrauch to Friedrich Schleiermacher

Landsb. d. 28ten Novb. 1799
Nein, mein lieber Neveu, böse bin ich warlich nicht gewesen, ohnerachtet ich die mancherley zusammentreffenden Umstände, die Sie am Schreiben gehindert, freilich nicht wissen soviel aber doch wohl hätte errathen können, daß Sie durch die Anwesenheit der Gräflich Dohnaschen Familie mancherley Zerstreuungen haben mußten; aber das hatte ich gar nicht geahnet, daß sie solange bis Ende October da geblieben
Jetzt muß ich Ihnen doch auch eine Neuigkeit melden, die Ihnen doch wohl interessiren möchte. Ich habe am letzten Sonntag einen ziemlich langen Brief von einer entfernten Freundin die seit langer Zeit nicht geschrieben, erhalten, die Sie vielmals grüßet, sich sorgfältig nach Ihnen erkundigt, und unter der Voraussetzung, daß Sie gewiß schon versorgt seyen, frägt an welchem Orte? Da werde ich denn nun schreiben müssen, daß Sie zu unsrem Leidwesen eine Stelle in Schwed, wo wir Sie ganz in unsrer Nähe gehabt haben würden, ausgeschlagen hätten | In der That, ich kann es Ihnen kaum verzeihen, daß Sie diese Stelle nicht angenommen, zumal da ich in der Folge so manches von der angenehmen Lage und von dem freundschaftlichen Benehmen an diesem Orte erfahren; am meisten aber wäre es darum uns sehr lieb und erwünscht gewesen, weil wir Sie dann so nahe gehabt hätten. Dies ist zwar eigennützig; allein ich denke doch daß ein solcher Eigennutz am wenigsten zu tadeln, oder leicht zu entschuldigen sey
Wer jene gute Freundin sey, werden Sie leicht errathen
Und nun komme ich gleich auf das was Sie der Mama zu rathen aufgegeben[.] Sie grüßet vielmals; sie meint, wenn Sie außerdem, was Sie angeben, noch etwa für Kleider und Wäsche höchstens 300 rth ausgegeben hätten, so wäre das für den Bedarf eines einzelnen Menschen immer schon viel fast zu viel; sollte sich aber die Summe, wider Erwarten, noch höher belaufen, so würde sie Sie für einen Verschwender halten müssen – sagt sie
Unsrem Cantor war es eine herzliche Freude, daß sein Sohn doch einige Versorgung – zumal da ich ihm sagte, wie ich an Herrn Sack geschrieben, daß wenn man dort mit seiner Amtsführung zufrieden, er nach einiger Zeit auch wohl eine anderweitige bessere Stelle würde erwarten dürfen. Er läßt sich Ihnen ergebenst empfehlen |
NachMittags um 1 Uhr Da erinnert mich Mama eben an einen sonderbaren Vorfall, daß Sie nemlich am Sontag vor 14 Tage als den 10ten hujus Vormittags allhier in der Marktkirche gepredigt haben. Abends kam Frau D. Schulz (die Sie vielmals grüßen läßt) und fragte: Ob Sie schon bey uns gewesen? und wann Sie dann hergekomen? Wir wußten gar nichts darauf zu antworten, als daß wir Sie in diesem Jahre nicht gesehen, auch nicht wüßten daß Sie hier wären – darauf sagte sie: Herr Belitz (ihr voriger Wirth) habe sie begegnet und gescholten, daß sie es ihm nicht gesagt: denn wenn er gewußt, daß Sie predigen würden, so wäre er gewiß – so selten er es auch sonst thue – in die Kirche gegangen seyn um Sie einmal wieder zu hören. Da meint nun Mama, wenn Sie im Geiste hier predigen können, so könnten Sie uns auch wohl im Geiste besuchen; sie verspricht Ihnen heilig, daß sie sich für Sie als Geist nicht fürchten will
Und nun, da sie sieht, daß ich Ihren Brief von hinten zu beantworten angefangen, und Sie zuletzt von Ihrer Predigt in der DreyfaltigkeitsKirche [geschrieben haben] – so soll ich fragen: ob Herrn Prediger Thiele’s Tochter verheirathet sey, und an wen?
Wegen der Leinwand sollen Proben mitgeschickt werden
Nun möchte ich auch gern etwas von Literatur schreiben, aber es ist zwar kaum 3, jedoch so dunkel, daß ich fast gar nicht mehr sehen kann, wie es denn überhaupt in diesem Herbst wegen der anhaltenden Nebel, dergleichen ich sonst so starke nicht bemerkt habe, fast gar nicht Tag wird. Also muß ich für jetzt aufhören |
den 30ten Abends Diesmal gings mir mit diesem Briefe, wie leider mit so manchen Vorsätzen. Es war gestern ein so schöner heiterer Tag, als wir in langer Zeit nicht gehabt, das reizte mich zu einem Spaziergange, und dann ging ich zum Feldprediger, mit dem ich jetzt manches Stündchen sehr angenehm verplaudre – darüber ist denn aber auch und durch einige andre nicht so angenehme Störungen die Zeit so hingegangen, daß ich wenn dieser Brief noch morgen fort soll, ihn wohl bald endigen muß, zumal da heute Sonnabend und ich Vormittag zu predigen habe
Dieser Tage erhielt ich eine kleine Piece der Hyperoboreische Esel vom Conrector. Ich habe von Kotzebue, von dem dieses Stück – seit seinem Menschenhaß und Reue nichts gelesen – hatte auch anfangs keine große Lust dazu; aber Sie erinnern sich vielleicht noch daß in den Winterabenden, wenn Mama bey ihrem Rädchen – wohl gefragt wird: Hast du nichts vorzulesen? also versuchte ichs. Es waren da imer Stellen aus der Lucinde – einem Roman den ich nicht kenne, angeführt, dazu ich auch nach der Ehe à quatre eben keine große Lust habe – So kam auch wieder der Einfall – „Ich bin Gott!“ den ich vom verstorbenen RegimentsChirurgen wohl mehr als einmal gehört, bey ihm aber für unrecht verstandnen oder nicht recht verdauten Kantianismus hielt – hier war er aber – auch wieder aus der Lucinde deucht mir – angeführt – das schreckte mich denn wieder aufs neue ab[.] Kennen Sie diese Lucinde? Mir deucht ich habe einmal die Benike von einem Roman unter diesem Titel und wo mir Recht ist – sehr empfehlend sprechen hören.
Aber es ist Zeit daß ich schließe – es ist über halb 12
Viele Grüße von Mama und David. Viele Empfehlungen an Herrn Vetter Reinhard von
Ihrem aufrichtig getreuen Oheim
St.
Metadata Concerning Header
  • Date: 28. bis 30. November 1799
  • Sender: Samuel Ernst Stubenrauch ·
  • Recipient: Friedrich Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Landsberg (Warthe) · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 3. Briefwechsel 1799‒1800 (Briefe 553‒849). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1992, S. 270‒273.

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