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Lotte Schleiermacher to Friedrich Schleiermacher

d 21ten Aprill
Das ist das erstemahl in meinem Leben! Bruder! daß ich mich in einem solchen Zustande der Sehnsucht befinde, welcher je länger je peinlicher wird – es vergeht wirklich keine Stunde, besonders seit den Feiertagen da nicht Furcht und Zweifel Hofnung und Erwartung mich erfült – denn selbst in meinen Schulen verläßt mich der Gedanke an Charles nicht – denn in der Geschichte und Geographie sind 1000 Dinge die mich an ihn erinnern, ach und die ZwischenRäume meines innern – tönen jezt nichts andres! – nun sind die Feiertage vorbei – keine Briefe von Berlin, und Du hattest mir doch so gewis versprochen zu schreiben – natürlich daß ich entweder fürchten muß – Du wilst mich mit der unangenehmen Nachricht seines Nichtkommens so lange als möglich verschonen – oder – er komt bald – – gestern war ich im GemeinLogis im voraus ihm eine Stube zu bestellen – es waren dieser Tage so viele junge Leute noch spät Abends auf dem Plaz – und so schwärmerisch mir es selbst schien – hofte ich ein bekantes Gesicht unter ihnen zu finden – ach daß ich doch nicht so bitter getäuscht würde und ich bis auf den Herbst warten muß – ohngeachtet meine Stunden von 8 bis 4 außer der MittagsStunde besezt sind – so wolte ich es schon einrichten sein Hiersein zu genießen. Die gute Schlegeln die Du ja noch im Andenken hast – ist seit 3 – 4 Wochen in einem sehr leidenden Zustand – entsezliche Gicht an Händen und Füßen – dabei ein starkes NervenFieber so daß sie in allem unthätig – die Schulen sind ihr abgenommen – natürlich daß auch ich mehr habe als sonst – eine andre Schwester hat ihre übrigen Geschäfte unterdeß übernommen |
Gnadenfrey den 27ten Aprill 1800
Dieser und mein voriger Brief haben Dir warscheinlich einen so klaren Begrif von meiner Sehnsucht nach Charles beigebracht – daß Du Dich ganz in meine Freude des Wiedersehns und eben so in die Wehmuth hineindenken kanst – die mich nach der Trenung umschwebt! denselben Abend da ich das lezte Blat geschrieben schwärmte ich noch lange um das Gemeinlogis umher – und fand zu meinem Trost theilnehmende Wesen, die sich ganz in meine Sehnsucht fanden – den 22ten war ich sehr geschäftig und hatte durch das Leesen in der alten Weltgeschichte mich selbst gleichsam vergeßen – nach meinen Schulen wanderte ich mit der kleinen Peistel die erst in die Anstalt gezogen auf den Glazhof, um ihr Heimweh durch den Anblik ihrer Eltern zu stillen – wir giengen zusamen zurük nach Gnadenfrey – und da ich eben in meiner Stube, meine Einladung zum Abendeßen melden wolte – riefen mir Alle entgegen, daß der Bruder da und ich dort schon gebeten wäre – meine Freude – die ich mehrentheils aufgegeben hatte war groß – doch suchte ich seinen lezten Brief und anderes mehr – noch hervor – daß wir sehr vergnügt waren – wird Charles wohl auch bezeugen – die große | Aehnlichkeit mit dem unvergeßlichen Alten – die ich nicht nur im Gesichte, auch in manchen Tönen – Bewegungen und sogenanten eigenthümlichen des Caracters seiner Jugend unbeschadet fand, machte mir viel Freude, und brachte ganz ungesucht manches Gespräch von alten Zeiten, hervor – auch die gute Krebs und Proffessor Bertram, leztere SchwiegerMutter des Buerde, fanden es bald recht auffallend! Tages nach seiner Ankunft giengen wir hin – fanden sie aber erst auf den Glazhoff – wo wir uns gemeinschaftlich der grünenden blühenden Bäume – und der treflichen Gegend freueten! – Donnerstags nach Tische, giengen wir zu der OrtsHerschaft Baron von Seidliz auf welche Du Dich wohl noch besinen wirst! der Baron den ich imer mehr wegen seiner Gelehrten Kentniße und MenschenFreundhchkeit schäzen lerne – unterhielt sich mit Charles ganz in dem Fache das ihn beschäftigt – wir besuchten auch die Anstalt wo es – so wie Dir weiland, auch dem berühmten Chemiker recht gut gefiel er nent die mit so lieben verschiednen Kindern angefüllten Stuben meinen Himmel – und er hat wohl Recht – hienieden weiß ich keinen schönern – wo ich so angenehm und auf so mannichfaltige Art wirken könnte – wo ich für die Unvolkomenheit meines Vortrages als auch des schläfrigen, oder muthwilligen Wiederstrebens mancher Kinder – doch durch die Aufmerksamkeit und schuldlose Anhänglichkeit der mehresten – reichlich schadlos gehalten und belohnt werde! – | meine Geschäfte sind freilich sehr gedrängt – da mich aber seit dem Abschied des Winters mein NervenKopfweh völlig verlaßen hat, kan ich sie recht gut bestreiten – und brauche – denn ich bin ganz munter – keine Badecur – so stark wie manche andre Menschen, werde ich freilich nicht werden – ich war es aber auch nie – und nehme mich daher gern in Acht vor allem was mir schaden könte, mündlich könte ich weitläuftiger sein vielleicht beruhigest Du Dich in etwas durch das wenige.
den 5ten May Heute gedenkst Du gewis mit inigst zärtlicher LiebsEmpfindung des unvergeßlichen Vaters! Heut vor 7 Jahren feierte ich diesen Tag mit Charles – auf dem Glazhof und im Gemeinlogis[;] mit Sehnsucht sahen wir dem komenden Tage entgegen der Uns Beide, in die Arme des zärtlichen Vaters bringen solte – o! welche frohe Stunden verlebten wir in dem Hause des edlen Barons – in meinem nächsten Briefe mehr von ihnen; dan auch ausführlich von Comtesse Friderique und über manches was damit Bezug hat. Heute müßen diese Blätter auf die Post – ich kann sie nicht mehr vor mir sehen – am lezten Aprill erhielt ich den ersten Brief von Charles – er scheint was vom ersten Tage zu sagen ist recht vergnügt! Dank für Deinen Brief durch ihn!
Lotte S. |
Recht sehr hat mich gestern Dein Brief überrascht – da der meine ganz fertig ist – will ich nur noch diese Zeilen hinzusezen damit das Pact nicht zu dik wird. Alle Deine Nachrichten waren mir sehr interressant. Die Comtesse Friderique, scheint zu ganz eignen Prüfungen im Väterlichen Hause bestimt zu sein – ich bedaure sie – wegen des hohen Grades von Gefühl um desto mehr – da ich aus eigner Erfahrung wiewohl in verschiednen Laagen – es leider gut weis! wie das thut – durch unrichtigen Argwohn gedrükt zu werden – und das so ganz anders zu empfinden wie es etwa bei den Mehresten der Fall wäre – es giebt Stunden des peinlichsten Gefühls die nicht beschrieben werden könen – Ergebung – mit dem BewustSein vereint – ich bin Zögling Gottes – er will mich dadurch | bilden – zu dem – was ich hier und dort sein soll.
Wer edel ist kann edler werden
wozu die Probezeit auf Erden
als uns zum Himel zu erziehn!
Dis scheint mir für diese liebe Dulderin ganz anwendbar! wäre sie mir erreichbar ich hätte ihr schon manches theilnehmende gesagt dergleichen muß mann sich versagen – und eben dis fühlt mann mehr als andre Entbehrungen die vielleicht jedem Andern erschreklich deuchten. Wenn die Besuchenden weg sind – und sich alles wieder gelagert hat dann mehr – denn ich habe noch von Deinem vorigen Briefe etwas über das liebeloose Leben in petto.
Bücher – nicht Taschenbücher – komen denn auch in Anfrage – das Schreiben wird mir seit geraumer Zeit so schwer — daß ich auch deswegen manches verlangen muß –
Lotte
Metadata Concerning Header
  • Date: 21. April bis 5. Mai 1800
  • Sender: Lotte Schleiermacher ·
  • Recipient: Friedrich Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Gnadenfrei ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 3. Briefwechsel 1799‒1800 (Briefe 553‒849). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1992, S. 492‒495.

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