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Lotte Schleiermacher to Friedrich Schleiermacher

Gdfr den 14 July 1800
Schon um 5 uhr war ich heute auf, um vor meinen Schulen – solo der schönen Natur zu genießen und an dieser Freundin eine reine Theilnehmerin meiner gestrigen schnell entflohnen Freuden zu finden – meine Gefühle da auszuhauchen – und sanft sich lagern zu laßen – denn schlafen konte ich doch nicht – und schreiben auch nicht. O! es war ein köstlicher Morgen wie der vorgestrige Abend Beide haben Bezug mit einander – Du solst nun alles hören. Gegen 7 gieng ich vorgestern Abend solo auf den Glazhof – mit dem Wunsch Niemand dort zu finden oder zu begegnen welches auch ganz gelang – ich hatte Deinen Brief vom 17ten Februar dieses Jahres zu mir gestekt den ich beim Abgang meines leztern nicht finden konte – las mit innigem Behagen die glükliche Erlösung der Comtesse Friderique – und fühlte wie ich ganz kürzlich geschrieben – ein herzliches Verlangen die Edle kenen zu lernen – dachte mit unnennbarer Zärtlichkeit an, sie, die ich ungekant schäze und liebe – und nun da ich sie kenne – freilich wünsche sie länger gesehen zu haben – hier heists
„Ja Freund des Augenbliks genießen – der aus des Schiksaals Urne
quillt!
Um Stunden unbesorgt die uns noch sollen fließen – dies die
Philosophie die mit Gewin vergilt
Das andre wohlbeschaut sind Nieten – –“
Ja Lieber! erfült ist gestern mein langgenährter Wunsch – den | ich vor einigen Tagen so ferne glaubte als irgend etwas – die Ueberraschung war so groß – und nach dem langen warten und denen besondern Mahlereyen meiner Einbildungskraft – das eigentliche Sehen so wenig – daß ich von dem total Eindruk der Freude noch gar nicht zu mir kommen kann – und einzelne Eindrüke gar nicht vest zu halten im Stande bin – Du kenst das doch wohl – doch weiter – sonst werden Folianten geschrieben und Du erfährst nicht – wie ich mich dabei benomen (wiewohl ich Dirs gleich sagen will herzlich schlecht weil die Allgewalt meiner Gefühle die ich so gern gemäßigt hätte, mich gewiß sonderbarer hat handeln laßen als ich wolte)
Um halb 8 ist unsre GemeinStunde Sontags – es hatte eben ein Vierthel geschlagen als unsre Vorstehern in meine Stube kam und einen großen Besuch meldete die schon in der Anstalt wären – und bald erscheinen würden, nent auch die Dohnas da aber jederman glaubte, es wäre der junge Mann der kürzlich eine Schemberg in Sachsen geheiratet – blieb ich ruhig wiewohl alles an meinem Wesen in Bewegung war – in 5 Minuten erschien sie wieder – man verlangte mich – und kente meinen Bruder – ich eilte auf den großen Gang der zur SchlafSaalTreppe führt – welche sie eben herauf stiegen | ein mänliches Wesen – nebst dem Bruder der herumführt – erwartete mich – ich ahndete Graf Louis und er war es – der mit einer liebenswürdigen Bescheidenheit und Herzlichkeit – sich meiner Bekantschaft freuete – und Deiner mit einer Dankbarkeit erwähnte – die mich inigst rührte – die alte Gräfin kam mir einige Stuffen entgegen – und war sehr artig und herzlich – der Graf ganz so wie ich mir ihn gemahlt habe[;] nun sahe ich 3 Comtessen erkannte bald Friderique wolte aber doch nicht gleich mich nahen – der SchlafSaal wurde nicht aufgemacht weil es schon zu läuten anfieng – wir giengen die Treppe herunter Christiane und Auguste beide sprachen herzlich von Dir – und ich frug endlich – ob jene – die Comtesse Friderique sei – in meiner Stube welche wir noch im Vorbeigehn ansahen – bezeugte ich Frideriquen mit wenig Worten meine Freude – konte aber ihr liebes Bild gar nicht recht faßen – aus lauter Furcht man möchte meine nahe Theilnahme errathen und ich vielleicht die Andern, oder sie selbst beleidigen – – doch da sie und die Mutter von ihrer erlitnen Krankheit sprachen, bezeigte ich bald, daß ich Theil daran genommen – welches Alle liebevoll aufnahmen – auch leugnete ich gar nicht ihre Namen zu wißen. Daß ich sie auf den Saal begleitete versteht sich von selbst als wir angelangt – ergrif mich die Edle sanft bei der Hand – und äußerte den Wunsch neben mir zu sizen – auf die andere Seite verfügte sich die Mutter – wie mir während der Versamung | die nur eine kleine halbe Stunde – dauerte[,] da mich Friderique zuweilen ansah zu Muthe war – kann ich nicht beschreiben – wie ich denn überhaupt keine Worte – dafür habe – Dir die herzliche Liebe und wohlwollen der lieben Leutchen insgesamt gegen mich zu schildern – ach mir war wohl unter ihnen ich begleitete sie ihrem Wunsch gemäs auf den GottesAker aber auch hier war ich sprachlos – und sagte zu Frideriquen sie würde das SchleiermacherWesen wohl ohne Worte verstehen – sie erwiederte es mit einem Blik – den ich fühlte – jedes nahm ganz besonders Abschied – natürlich daß ich gegen die Alten des Guten erwähnte – was Du im Hause genoßen – sie wolten aber nichts wißen, als daß sie Dir vielen Dank schuldig – Er, sezte hinzu „ich wünsche daß ihr Bruder imer unser Freund bleibe“ – die beiden Auguste und Christiane nahmen herzlich und gütevoll Abschied – – ich wünschte Frideriquen dauerndes Wohlsein – was sie sagte weis ich nicht – aber daß auch ich ihr als Lotte nicht gleichgültig bin – ließ sie mich fühlen. Louis ließ Alle vorbeigehen – sprach inigst gerührt von Dir und mir – kurz – das war einzig! ach! es sind alles gute liebe Menschen – aber Friderike und Louis zeichnen sich besonders aus – natürlich daß sich mir bei ihrem Anblik alles vergegenwärtigte seit Deinem Eintritt in Schlobitten usw durch alle Veränderungen – daß mein ganzes Wesen durch das Heer der Gedanken und Gefühle sonderbar | aufgeregt – daß ich nun beßer als sonst mich in Dein enges Verhältniß mit ihnen verstehe – und mir alles durchlese was in Deinen Briefen von ihnen handelt – ist leicht zu erachten – alles was ich vor vielen Jahren deswegen an Dich schrieb – scheint mir zu wenig und zu viel – nur Schade daß ich sie nicht länger gesehen nicht ganz gefaßt habe denn von dem einen Blik ist nur eine Sehnsucht entstanden die leider mich noch oftmals anfechtet – und wiederholt kommen wird – in welche Du Dich wohl verstehen wirst – ach das hat mich so redseelig und so stumm gemacht – aber auch ganz bestirnt nun selbst an Friderique zu schreiben.
den 29ten Hoffentlich wirst Du die Güte haben und denselben abgeben – oder auch nach Gutbefinden Louis einhändigen welcher ihn gern besorgen wird – denn ich wünschte daß sie die Versicherung meiner Achtung und Theilnahme allein liest – Auf Antwort mache ich keine Ansprüche wenn sie mein Gesudle (welches zwar etwas beßer ausfallen soll wie dieses) nur gütevoll aufnimt – meine Delicatesse heißt mich ihn zumachen – von Dir soll nichts darin stehen, als inigen Dank für alles was Dir durch ihre Güte zu Theil wurde – die Aufschrift beunruhigt mich nicht weil es nicht über Post geht – nur bitte recht sehr ihn nicht während ihrem Auffenthalt in Berlin im Secretair liegen zu laßen – denn nachgeschikt wird er nicht – das wäre ganz zweklos – verstanden Herr Prediger! ich warte nun von einem | Posttag zum andern auf einen Brief von Dir – nebst einem Blatt für Maria – dies liebe Weib wird für jezt noch keinen rechten Begriff von Deiner Freude über ihre Zeilen haben – weil Du so langsam mit der Beantwortung bist – so viele frohe Stunden mir und Andern seit 10 Jahren Abwesenheit, ihr Besuch machte, so habe ich denn doch auch manches ihrentwegen gelitten – nun ist alles vorbei – und ich habe seitdem wieder manches andre bestanden was so in dem unvolkomnen Leben uns aufstößt und gleichsam mit dem besten Genuß verwebt ist.
In meinem lezten schrieb ich Dir ob von denen Schriften eines Ungenanten in Berlin für mich nichts lesbaares wäre? es ist damit mein völliger Ernst – ich habe gern etwas ernsthaftes – oder glaubst Du daß dis gar nicht mein Fach? – so wenig ich mich seit 3 Jahren mit französischen Lectionen abgebe so habe ich doch seit geraumer Zeit manches in dieser Sprache gelesen – als les memoires secrets par Monsieur Bertram – aus welchem man Louis XVI ganz kennen lernt – anecdotes des Rois francais – und jezt lese ich Histoire philosophique de la revolution – und zu meiner Uebung in meinen täglichen Lectionen – Rollin | eine ganz amusante Schrift les petis Emigrées par Madame de Genlis – hat mir auch eine angenehme Abwechselung gemacht auch habe ich Mungo Parc gelesen –
den 1ten August Heute haben einige mir interressante Menschen ihren Geburtstag unter ihnen steht oben an meine Aulock! in aller Frühe schikte ich einen Brief an sie ab trug ihn vielmehr selbst in den Laden welches mir imer äußerst angenehm ist – einige Stunden darauf hörte man hier – eine traurige Nachricht – daß der Oberst Rosenschanz ihr Schwager vom Pferde gestürzt. Du kanst denken daß mich das um der ganzen Familie – als auch besonders wegen meiner treflichen Freundin gewaltsam ergriff alles war bei uns voller Theilnahme ich wegen der GeburtsTagFeier inigst betrübt – gegen Abend schikte die Edle ihren Bedienten ließ sich für meinen Brief bedanken mit dem Hinzufügen sie hätte gern einige Zeilen erwiedert läge aber im Bette – natürlich daß ich ihn wegen der schreklichen Scene befrug – auch nach Pangel hat man diese Sage verbreitet, da aber wegen kleiner Begebenheiten Stavetten von Ohlau wo Rosenschanz steht hingeschikt wird – so muß es entweder ganz unwahr sein – oder so unbedeutend daß man die zärtliche Schwester nicht erst beunruhigen will – in meinen lezteren glaube ich schrieb ich Dir – daß sie erst kürzlich auf ihrem Gute Zurpiz im Münsterbergschen einen großen Brand erlitten – kurz die beiden Familien – ja alle die Geschwister Hirsch scheinen recht durch Trübsaale mancher Art über alles irdische weggehoben zu werden: vor einigen Wochen schrieb mir die Aulock sie habe einen Hofmeister gefunden von dem sie sich viel verspräche – weiter weis ich nichts – gesehen haben wir uns nicht. Diese inige Freude steht mir noch imer bevor – und wenn es geschieht habe ich jezt immer so wenig Worte – |
den 2ten August. Mit der Erzählung eines fröhlichen überraschenden Ersehns fieng ich diesen Brief an, und mit einem Wiedersehn welches mir nicht wenig Freude macht endige ich ihn. Vergangnen Dienstag vormittag wurde ich schnell aus der Anstalt hieher gerufen weil mich Fremde sprechen wolten – ich fand sie auf dem Gang vor meiner Stube – außer einem einzigen alles unbekante Gesichter – und auch diesem konte ich keinen Namen geben – ein Man von etwa 40 Jahren näherte sich mir mit einem edlen Anstand und an meinem Erstaunen merkte er bald daß ich ihn nicht erkante – es war Reinhold Wunster – der alle Wochen in Breslau bei uns aß – da wir noch im Cobsischen Hause wohnten – Gott! mit welcher Rührung sprach er von unsern Eltern und dem guten was er im Hause genoßen – nicht nur in meiner Gegenwart auch zu Andern da ich ihn (weil ich eben in der Schule war) gleich wieder verlaßen muste – (doch speiste ich Mittags bei ihnen) er hatte seine Frau und noch einen Kaufmann mit seiner Frau aus Breslau mit – ich wuste nichts von seinem Etablissement in Breslau sondern suchte ihn in SüdPreußen – das war eine Ueberraschung seit 23 und mehr Jahren – denn das lezte Jahr habe ich ihn dort nicht mehr gesehen – es war ein ganz eigner Genuß für mich und Berührung der Geister unsrer Seeligen die ich näher als sonst fühlte – kurz war das Gespräch nach einem solchen Wiederfinden auch waren wir Beide in alte Zeiten vertieft – und durften es doch wegen der Übrigen nicht ganz sein – er hat eine liebe Frau. | Durch einen besondern Auftrag den er hier in der Nähe hatte, wobei er sich äußerst rechtschaffen benahm zog er die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich, mehr als er, der täglich dergleichen zu besorgen hat glauben mag er ist Registrator bei der Kamer. Daß der liebe Man so wie mehrere die schon nach mir gefragt haben, meinen Besuch in Breslau wünscht – wird Dich wohl nicht wundern. – Der Pastor sein ältester Bruder schrieb schon vor einigen Jahren deshalb an mich – alles dis machte wenig Eindruk seitdem ich aber mit der Proffessor Bertram SchwiegerMutter des Buerde bekannt (wovon ich Dir schon geschrieben) und Charles in Breslau ist – alle die alten Freunde unsrer Eltern besucht und mich diese so herzlich bitten laßen – werde ich gleichsam wieder meine Vernunft durch mein Herz getrieben – noch diesen Herbst wo möglich Anstalt zu machen; die alte Moellendorfen soll außerordentlich erfreut gewesen sein einen von Uns zu sehen – ich fürchte mich aber vor mir selber – da das Wiedersehen eines einzelnen solchen tiefen Eindruk macht wie wird das denn gehen, wenn wiederholt solche Scenen kommen? nur 8 Tage bestime ich dazu das ist genug die lieben Leutchens alle 1 mahl zu sehen – ich hatte diesen Somer schon einige Ueberraschungen von Breslauern die nach Landek oder Altwaßer giengen – waren aber für Dich nicht so interressant |
den 4ten August
ich hatte eben eine recht schöne einsame Stunde auf unserm BetSaal – am Clavier – Du must wißen daß seit geraumer Zeit meine alte Spiellust wieder erwacht ist – zuweilen hole ich mir da meine alte Stüke, und spiele mir selbst was vor – da nur 1 Instrument zum algemeinen Gebrauch und sehr viel Lernende – so ist der Saal selten leer heute nach 4 war ich so glüklich niemanden zu treffen und auch ganz ungestöhrt zu bleiben – ich ergrif ein Buch welches ich Jahr und Tag nicht angerührt – und fand noch Arien die ich mir in jenen Zeiten aus denen Noten meiner unvergeßlichen Ziimmermann abgeschrieben hatte dis war mir ein eignes Seelenfest! – unter andren das „Auch des Lebens bestes schwindet wie [die] Thräne sanft herab – auch die reinste Freude findet in dem Schlund der Zeit ihr Grab“ – auch klimperte ich – Friede sei um diesen Grabstein her – mein altes Breslauer Buch ließ ich heute ganz liegen – und nun will ich hinaus in Gottes freie Luft! Sehr sonderbar war es – und von mir als Wohlthat erkant – daß eben in denen Tagen, da sich der Verlust meiner Zimmermann verjährte – ich die Freude hatte die edlen Donas kenen zu lernen – da hatte ich denn doch in denen Zwischenzeiten meiner Schulen – gleichsam wieder meinen Willen einen Gegenstand der Freude – heute 8 Tage um diese Zeit war ich bei Wunster – da kome ich schon wieder auf alle die lieben Menschen zurük – was macht Dein Freund Hülsen kenst Du ihn nun persönlich? hier schließe ich – warte aber noch bis Ende dieser Woche – erscheint nichts von Dir – dann reist sie ab diese Epistel.
Lotte S.
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  • Date: 14. Juli bis 4. August 1800
  • Sender: Lotte Schleiermacher ·
  • Recipient: Friedrich Schleiermacher ·
  • Place of Dispatch: Gnadenfrei ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. 5, Bd. 4. Briefwechsel 1800 (Briefe 850‒1004). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u.a. 1994, S. 157‒164.

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