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Dorothea von Schlegel, Henriette Mendelssohn to Rahel Varnhagen

Strelitz den 13ten Sept. 1792
Liebe Rahel! ich muß Ihnen von der französischen Oper in Rheinberg erzählen. Nein, noch habe ich mir Sie nie so herzlich neben mir gewünscht, als den Abend. Denken Sie sich ein Theater, niedlich verziert, aber noch wohl um die Hälfte kleiner, als das Theater im Berliner Palais. 50 Menschen machen es unten stikkend voll. es sind auch 2 Reihen logen da, in jeder Reihe 7 oder 8. Da gehen aber nur die gemeinen Leute herein; was du ton ist, das geht unten. Der Prinz 3 Damen, und 4 Herren saßen auf Stühlen mitten im Parterre, hinter ihnen stehen in einen halben Zirkel 3 oder 4 Reihen Bänke zwischen Säulen, darauf sizzen die übrigen Zuschauer, das Ganze ist recht niedlich decorirt aber so klein, daß 8 Lichte, die auf einem Kronleuchter brennen, das Ganze hinlänglich erleuchten. Fremde werden gut aufgenommen und placirt, aber nicht mit kleinstädtischer Neugierde betrachtet, der Prinz scheint dort, einen recht hübschen leichten Ton eingeführt zu haben, die meisten Einwohner sind Franzosen, von der Capelle, oder sonst zum Hofstaat gehörig. Vor mir saßen zwei Damen von der die eine der andern von Berlin, und vom Berliner Theater erzählte, und gewaltig auf beides los zog; unter andern sagte sie: sie könnte gar nicht begreifen warum Berlin so entsezlich weitläuftig wäre? sie sähe gar nicht die Nothwendigkeit davon ein; und sie unterstände sich Berlin so wie es da ist, mit allen seinen Gebäuden auf einen Platz zu stellen der grade ein halb mal so gros sei, als der ist, worauf es jezt steht. ist das nicht lustig? ich habe wahrhaftig geglaubt in Abdera zu sein. Und nun vollends die Oper selbst! Iphigénie von Gluk ward gegeben. Ich habe die Musik noch nie gehört, ich möchte aber schwören, daß blos Rellstabs Klavier Auszug war, der executirt ward, unmöglich war das die ganze Partitur, schon die große Ouvertüre ward ganz weggelaßen; und im accompagnement, haben auch ganz gewis eine Menge Instrumente gefehlt, man hatt sehr oft ganz deutlich die Lüken darinn merken können. Blase Instrumente waren gar nicht da, die Violinen machten Alles, auch diese waren nur sehr schwach besezt, spielten aber rasch, und prompt. Und nun die Sänger. Nein liebe Rahel, davon haben wir beide noch keinen Begriff gehabt, daß so etwas existirt. Die Aurore spielte die Iphigenie. sie hat auch nicht einen Ton der weniger unangenehm wäre – ich habe in meinem Leben nicht so einen Gesang gehört; gemein rauh und schnarrend, wie eine Kinderfrau von der französischen Kolonie; nicht die geringste Biegsamkeit; nicht die kleinste Manier als große elats mit dieser rauhen poissarden Stimme. abscheulich! nicht zu hören; aber sie recitirt doch beßer; sehr deutlich und mit großem Affect. Besonders ein Recitativ mit dem Oreste hat sie sehr schön gesprochen. Aber ihre Action! und überhaupt ihr ganzer Anstand – nicht auszuhalten! Alles, was Sie jemals von französischer Tragödien carricatur gehört oder gelesen haben, ist keine Uebertreibung – das Närrische davon geht über alle Beschreibung. Sie kennen die Aurore, sie ist hübsch. Aber mein Gott, hat denn das Weib nie gelernt, daß Iphigenie doch einen etwas edlern, simplern Anstand haben muß als eine bachantin? Sie ist mir ganz so vorgekommen wie die betrunkene Poissarde in der Königin von Frankreich ihren Kleidern am 10. August. Sie hat nur zwei Ausdrücke im Gesicht; entweder sie lächelt so süß und schmachtend wie eine Zauberin aus dem 5. Stockwerk, oder sie verzieht ihr wirklich reizendes Gesicht in den gräßlichsten Falten, und dies Mienenspiel wechselt oft so schnell mit einander, daß einen Angst und Grauen befällt. Sie hat nicht die mindeste Grazie, weder in ihren Mienen, noch Sprache, noch Gang, noch Anzug; alles gemein und outrirt. Angezogen war sie wie eine jüdische Braut, auch ohne alle Grazie. Beide Arme waren von den Schultern an ganz blos; ob gleich sie im gemeinen Leben hübsche Aerme und Hände haben mag, so war doch die Coquetterie, entblößt zu gehen, falsch berechnet; denn sie gesticulirte so heftig damit, daß die Muskeln ganz heraustraten und den Arm häßlich machten. Diese Iphigenie aber, war doch noch göttlich gegen Orest, Pilades, und Thoas. Nein so etwas! Nicht einen sangbaren Ton! auch nicht Einen; so einen Gesang habe ich noch in meinem Leben nicht gehört; der Thoas schnarrte wie ein Savoyard. Orest und Pilades verstand man nicht ein Wort, sie verhunzten das göttliche Duett, und die schönen Arien aufs erbärmlichste. Viel Atlas, viel Pelzwerk, viel reiche Gürtel und gepuderte Locken, viel Grimacen, aber nicht ein Funken Gesang, oder Manier, oder wahres Spiel. Der Orest hat mehr crochets gehabt in der Frisur, als Sie an Ihres Bruders Hochzeitstag. Kurz, es war nicht auszuhalten! Aber was muß die Iphigenie für eine Musik sein, so erbärmlich wie sie auch da gehandhabt worden, so habe ich doch bei manchen Stellen, wie ein Kind weinen müßen. Wenn ich diese Musik doch nur einmal recht vollständig hören könnte! – Die Dekorazionen sind recht hübsch in Rheinsberg, nur schade daß sie einem gar zu nahe sind; man kann jede Veränderung mit Händen greifen. Aber die herrlichen Chöre, wie die von den französischen Nähmädchen sind hergeschnarrt und gelispelt worden, und was das für ein beständiges Durcheinanderlaufen auf dem Theater war – ich bitte Sie Liebe Rahel wenn Sie einmal über etwas ernsthaftes recht sehr lachen wollen, so sehen Sie eine große Oper von Franzosen aufführen; es ist nicht auszuhalten.
Von Reinsberg selbst werden Sie ja wohl schon vieles wißen; die Menschen leben hier von, und durch den Prinzen; das ist gut berechnet, damit man für sein langes Leben bete! aber es ekelt einem, für diese Sinnlose Macht, und Reichthum. sein haus, sein Garten, und alles was er aus seinem Fenster übersehen kann; ist üppig und prächtig; gehen Sie nur um ein Haus weiter, nur die Ekke herum, und sie finden kein ganzes Dach, keine reine Straße, kein ganz angezogenes Kind. Dürftigkeit und Elend allenthalben; und auch diese elende Existenz, ist nur sehr precair; mit seinem Leben endigt auch das ihrige, sie erhalten sich nur vom Abgang seines Ueberflußes; und durch den tausend überflüßigen Dingen die sie ihn verschaffen müßen, ohne daß sie das nothwendige haben, oder die Außsicht haben es künftig, oder durch eignen Fleis zu besitzen. Das Land in dem er launenhaft genug war einen Pallast zu bauen, ist schlecht, rings herum nichts als tiefer Sand und nur die Wege die er betritt, sind durch Aufwand blühend gemacht. Verdammter Aristokrate! konnte ich mir nicht erwehren auszurufen. Es ward sehr lebendig in mir, wie ein ganzes Volk mit einemmale sich gegen die schwelgenden Tirannen auflehnen kann, die sich ewige Simphonien vorspielen laßen, und so das Geschrei des Elends nicht hören, daß ihnen sonst zu Ohren kommen würde. So eine Oper, kostet mehr, als es kosten würde, ein eingefallnes Häuschen wieder aufbauen zu laßen, in dem Friede und Wohlhaben wohnen könnte. ich dachte mir ganz Frankreich so, und nun verstand ich die Franzosen. Verzeihen Sie meinen Eifer liebe Aristocratin – Sie sollten nur Reinsberg sehen.
Auf Ihren Brief habe ich weiter nichts zu antworten, als was Friedrich der IIte einmal zu Künstlern gesagt hat, die den Abschied von ihm forderten und sich über böse Zeiten beklagten: „Wißt Ihr einen Ort, wo es beßer ist? nennt ihn mir, ich will mit gehen.“ – Was haben Sie mit D. Veit vorgehabt? Der arme Junge! wenn ich nicht in Berlin bin, so nimmt sich auch kein Mensch seiner an. Grüßen Sie unsre gute Liepmann recht, recht herzlich von mir; morgen über 8 Tage bin ich wieder in Berlin. Wenn Sie mir also noch schreiben wollen, so müßen Sie es den Sonntag thun, sonst trifft mich Ihr Brief nicht mehr. Adieu.
Ihre BV.
Wollen Sie wohl so gütig sein und einliegenden Brief zur Post besorgen? er muß auf jeden Fall durch Berlin. Grüßen Sie unsre übrigen Berliner Freunde.
[Nachschrift von Henriette Mendelssohn:] Sagen Sie mir, liebe Rahel, wie war es Ihnen möglich, mich zu fragen, ob ich Briefe, und solche wie Ihr letzter an unsre Veit war, von Ihnen zu lesen wünsche. – Ich vergebe Ihnen diese Frage nicht! Schon gab ich jeden Anspruch auf einen Brief von Ihnen auf. Ich dachte Sie erinnerten sich meiner wohl noch zuweilen, aber nie deutlich genug, nie so freundschaftlich, um es mir auch zu sagen, daß Sie an mich denken. – Und nun schreiben Sie mir nur nicht, weil Sie nicht immer guter Laune sind. Als ob ich nicht wüßte daß man bei Ihrem Verstand nicht immer munter sein kann. – O ich weiß das alles, ich habe Ihren Brief verstanden, er hat mich sehr gerührt, aber wie sie selbst sagen, es giebt weder Trost, noch Rath für Ihr Verhältniß. Schreiben Sie mir liebe gute Rahel; gern, sehr gern will ich jede Ihrer trüben Stunden mit Ihnen theilen, Ihre Launen tragen und wenn es auch nur eigentliche Launen sind. Thun Sie es, ich bitte Sie so herzlich, Sie können sich denken wie. Die Veit reist nun auch bald weg. – Wahrscheinlich komme ich diesen Winter nach Berlin. Grüßen Sie mir unsre liebe liebe Liepmann tausendmal so herzlich wie es Ihnen möglich ist. Adieu
Ihre H.[enriette]
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Metadata Concerning Header
  • Date: Donnerstag, 13. September 1792
  • Sender: Dorothea von Schlegel · , Henriette Mendelssohn ·
  • Recipient: Rahel Varnhagen
  • Place of Dispatch: Strelitz · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 23. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule (15. September 1788 ‒ 15. Juli 1797). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Ernst Behler u.a. Paderborn u.a. 1987, S. 62‒65.
Language
  • German

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