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Friedrich von Schlegel to Novalis

Es ist sehr lange Zeit, liebster Freund, seit ich Dir keine Nachricht von mir gegeben habe. Gewiß bist Du mir während dieser Zeit nicht weniger gegenwärtig als sonst gewesen – aber ohngefähr um die Zeit, als ich Deinen lezten Brief erhielt, entschloß ich mich, Dir nicht eher wieder zu schreiben, als bis ich in Ruhe sey. Ich hätte Dir nichts sagen können, als wie übel es mir gieng, und dazu konnte ich nichts thun und sahe keinen Ausweg. Dieser fand sich zwar, und mit meiner Entfernung von Leipzig fiel die Schwierigkeit weg, welche bis dahin alle meine Entwürfe und Entschlüße fruchtloß gemacht hatte. Allein völlige Entscheidung erfolgte erst sehr spät, und unterdessen habe ich mich in Arbeiten so vertieft, daß ich bis iezt noch nicht die ruhige Stunde fand.
Zachariä hat Dir vielleicht gesagt, oder Du hast es sonst gehört, daß ich fast seit Anfang des Jahres in Dreßden lebe. Und seit einige[n] Wochen wohne ich in Pillnitz in einem kleinen Bauerhause am Fuße eines Berges, mit der Aussicht auf eine freundliche Fläche; das Haus selbst liegt aber mitten in Bergen. Ich habe eine Zeitlang geschwelgt in den Schönheiten der Natur, die hier groß und mannigfaltig sind. Dieses und der ruhige Genuß der frischen Bergluft, giebt mir neue Kraft und Heiterkeit nach den ununterbrochnen Arbeiten und Mühseligkeiten des Winters. Ich bin froh und glücklich und sehe ein schönes Leben vor mir.
Ich könnte Dir eine lange Erzählung machen von dem Zwischenraume bis hieher – aber ich habe nicht Lust, vielleicht einmal mündlich. Die Schmerzen sind vorüber; es sind keine Spuren davon zurückgeblieben, ich will sie vergeßen. Meine Lage war weit schlimmer, als Du sie je gekannt hast, von vielen Seiten; Rettung schien unmöglich. Seit diese sich zeigte, bin ich zufrieden mit dem was ich that. Daß ich so leiden mußte, ist vielleicht auch gut.
Meine äußre Lage ist noch nicht <ganz>, wie ich wünschte, wie ich auch hoffe. Aber ich bin genügsam, ich scheue nicht Noth und Schmerz, ich verlange ja nur Freiheit, nach der ich so lange umsonst geschmachtet und die ich nun besitze. –
Seit ich hier in Dr.[esden] lebe, bin ich ausschließend mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigt. Seit meiner Ankunft bis iezt, habe ich ohne Unterlaß, ohne die kleinste Ausnahme, meine ganze Zeit einem Werke von größerm Umfange gewidmet, welches Dich vielleicht auch intereßiren wird, eine[r] Geschichte der Griechischen Dichtkunst. Dieses Werk hat in dem Mark meiner Seele Wurzel gefaßt; und sollte ich früher sterben, so würde mich das am meisten schmerzen. Ich wünsche es zu vollenden; ich kann nicht ruhen, als bis es für immer vollendet da ist; auch nicht der Atom eines Anstoßes darf meinen innigsten Genuß unterbrechen; und dann fordre ich den göttlichen Schein des von Selbst, wie Uranus aus dem Meere hervorsteigt. – Es ist sehr vieles dazu geschrieben, mit dem ich zufrieden bin – die Geschichte der griechischen Dichtkunst ist eine Naturgeschichte des Schönen und der Kunst; ich schmeichle mir, ja ich bin fest überzeugt, das Schöne ganz ergriffen zu haben. Ich lege hierauf einigen Werth, denn diese Kenntniß ist wichtig, und bis iezt gab es noch keine <wahre> Theorie des Schönen.
Ich werde mich vielleicht mehr mit den Alten beschäftigen. Ich wünsche auch eine Geschichte der griechischen Moral, vorzüglich von Socrates an, ausarbeiten zu können; und ein System griechischer Politik (Geschichte und Geist der Staaten und Verfaßungen, Politische Philosophie). Beyde sind im Ganzen völlig unbekannt. Doch davon einmal mündlich. Ich hoffe Dich Michaelis hier zu sehen, nach dem was Senff von Zachariä gehört hat. Ist diese Hoffnung gegründet? – Alsdann will ich Dich auch mit meinen ietzigen Beschäftigungen unterhalten – oder vielleicht in meinem nächsten Briefe.
Du glaubst nicht, wie oft ich mich schon gefreut habe, bey dem Gedanken, Dich für längere Zeit hier zu sehen. Denn freilich bin ich hier allein, ganz allein. Körners Umgang, den ich am meisten gesehn habe, ist nicht ohne Werth für mich. Meine Gedanken theile ich ihm gern mit; es geht da nichts verloren: und er dient mir, wenn er kann, mit Eifer. – Weiter geht es nicht, es ist nur Geist was uns verbindet, und selbst dieser kleine Genuß wird mir oft verengt. Ich kenne ihn nicht viel, und doch sehe ich so unvermeidlich, enge Schranken, grade wo ich sie nicht erwartet hatte. Der Schein großer Kraft verhüllt nur schlecht Weichlichkeit und Furcht, wenigstens meinem Auge, wenn auch dem seinigen. – Kurz er genügt mir nicht, ich wünsche Dich hier zu haben. Möchten wir uns aber nur früh genung wieder sehen, ehe wir uns fremd werden. Ich werde es nie; ich hoffe auch Du, doch hoffe ich nicht ohne alle Besorgniß. Dein Weg ist vielleicht nicht blos divergirend von dem meinigen, sondern diametral entgegengesetzt. Laß mich wissen, wie viel weiter Du auf demselben fortgegangen, und ob zu Deiner Zufriedenheit. Ich werde mich freuen, wenn ich sehe, daß Deine früheren Neigungen und Deine spätere Laufbahn in Harmonie gebracht sind; denn daß Deine Humanität in jeder Lage in Dir bleiben wird, hoffe ich mit Zuversicht.
Hast Du diese Zeit auch wohl an mich gedacht? Sage mir offenherzig. Die Zeit, mein Freund, die Zeit sondert das Flüchtige, das Vorübergehende, von dem Beständigen und Ewigen. Sie hat meine Neigung zu Dir bestätigt und bekräftigt. Ich umarme Dich herzlich.
Friedrich Schlegel
Grüße an Zachariae. – Dein Pfeifenkopf ist bei mir in guter Verwahrung.
Metadata Concerning Header
  • Date: Ende Juli 1794
  • Sender: Friedrich von Schlegel ·
  • Recipient: Novalis ·
  • Place of Dispatch: Pillnitz · ·
  • Place of Destination: Weißenfels · ·
Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 23. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule (15. September 1788 ‒ 15. Juli 1797). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Ernst Behler u.a. Paderborn u.a. 1987, S. 203‒205.
Language
  • German

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