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Novalis to Friedrich von Schlegel

Weißenfels, den 1. August 1794
Endlich wieder einen Brief von Dir! Der alte, bekannte Kopf auf dem Siegel weckte mich aus tiefem Schlummer. Ich sah lange die Züge Deiner Hand an und wollte nur nicht glauben, daß ich wirklich Dich vor mir hätte. Gott sei Dank! stammelte ich gegen Kommerstedt, der von mir gewohnt ist, daß ich meine meisten Briefe erst binnen acht Tagen öffne, oft gar nicht, wenn ich weiß, von wem er ist – und riß den Brief auf. Ein ganzes volles Jahr verschwand aus meiner Erinnerung – Es rückte Alles so nah zusammen – und mir war, als hätt ich lange geträumt. Noch immer der gute, innige Schlegel voll Zutrauen und Hoffnung. So manches ist vorübergegangen in Freud und Leid, und Du bist mir treu geblieben und hast mein Andenken nicht auf Sand am Ufer geschrieben. Ich war wirklich seit acht Tagen mit einem Briefe an Dich in Gedanken beschäftigt – denn das kannst Du wohl glauben, daß ich Dich nie vergessen haben kann – aber Du warst mir zuvorgekommen. Was mich am meisten freute [war], daß Du mit soviel Heiterkeit schriebst. Ob sie ganz ächt ist, getrau ich mir nicht zu entscheiden. Zu den Unersättlichen hab ich Dich immer ein wenig gerechnet. Wie gern säh ich Dich in Deinem Patmus – lauschend auf die Eingebungen der Natur, und ob Du einen Nachhall vergangener Tage ertappen könnest. Du könntest recht froh da leben, wenn Du einig wärst mit Dir und der Welt und Dich mit Deinen Bedürfnissen knapp einschränktest. Wer weiß, ob es nicht so ist – aber Mittheilung, Theilnahme, Arm, an dem Du wandelst – das wird Dir fehlen und wird Dir fehlen, wie es keinem fehlt.
Neulich erschrack ich recht. Ich war in Leipzig und saß more modoque consueto bei Donna Ester. Ein junger Mensch setzte sich zu mir – Mestmacher. Er fing an von Dir zu reden, redete nach seiner Art warm von Dir – aber klagte, daß Du so fremd und krank ausgesehn hättest und Dein Gesicht nicht von innerm Frieden spräche. Er erzählte weiter, daß Du bei einer frohen Partie traurig und frostig geschienen und gar nicht mit jugendlichem Muth aufgelodert wärst.
Dies bestimmte mich sogleich zum Schreiben an Dich, das ich wirklich theils unterlassen, weil ein Tag mir nach dem andern vor dem Examen trüb und seelenlos hinfloß, theils weil ich hoffte, Dich nach einer solchen Pause fröhlich zu überraschen und Dich mitten im geistigen Genuß wie einen Apicius zu finden, glänzend und heiter. Sonst hab ich auch keine Sterbenssilbe von Dir gehört, und alles spannte meine Erwartung. Den Ostermeßkatalog nahm ich begierig her – Dein Grundsatz, nie anonym zu schreiben – Dein Name war nicht zu entdecken.
Nun weiß ich doch, was Du vorhast, was Du Dir für einen Umgang unter Deinen Gedanken gewählt hast, und genieße Dein Buch schon halb in der phantastischen Vorstellung, die ich mir davon mache.
Ich wünschte freilich jetzt sehnlich die Politik eher zur Welt – die liegt mir jetzt näher am Herzen. Könnt ich mit Dir jetzt reden über meine Lieblingsgedanken bei Tag und Nacht – Du würdest mir und manchem nützlich sein – sintemalen jetzt die Zeit der Anwendung vor der Thür ist – und deutlich muß ich mir selber noch werden.
Neulich noch habe ich Deine Zauberkraft auf menschlichen Geist bewundert. Ich las einen recht viel versprechenden Brief von Fert – Lang und voll Analyse und Kritik und mitten drin hie und da die Züge Deiner Urbilder – Copien, die mich überraschten, wie in Haeberlins Reichsgeschichte eine Klopstockische Ode. Ich traue ihm wirklich Wärme für Dinge zu, die nicht von heut und morgen sind, wahres Interesse an den Angelegenheiten der Menschheit – Plato aber und die Republik sind Propfzweige. Zachariä hatte herzliche Freude – ich wollte sie ihm nicht stören mit einer Bemerkung, die nur die Eitelkeit kränken kann.
Mir behagts auch in der Einsamkeit herrlich. Es sind vielleicht die letzten ruhigen Monate – Eine weite, tumultvolle Zeit wird folgen, und wie gewichtig wird dann jeder wohlangelegte Augenblick meiner Ruhe. Die Natur scheints darauf abgesehen zu haben, die Schuld hernach auf mich wälzen zu können, wenn ich stolpre, denn an Belehrungen und Erfahrungen hat mir’s nie gefehlt, und jetzt brauch ich nur hin zu hören, hin zu sehen, wohin ich will, so finde ich, was mich leitet, stärkt und erhebt. Jedes Buch, das ich in einem Winkel liegen sehe, was der alltäglichste Zufall mir in die Hände spielt, ist mir Orakel, schließt mir eine neue Aussicht auf, unterrichtet und bestimmt mich.
Doch ich muß Dir kurz zuvor noch erzählen, wie mirs im ganzen gegangen ist. Ich habe in Wittenberg fast total meine Lieblingsbeschäftigungen verlassen. Studium chursächsischer Gesetze nahm alle meine Zeit weg. Mit den Besten war ich bekannt, und da sie etwas aus mir machten, so lebt ich gern und frei dort. Jeder Tag hatte seinen Plan, seine Hoffnung – Wünsche quälten mich nicht sehr, ich wies alle auf die Zeit hin nach überstandenem Examen. Zerstreuung hatte ich genug – Mit der ersten Zensur war ich um einen guten Schritt weiter. Der Pedantismus der Schule war nun überstanden, und ich war mit dem zweiundzwanzigsten Jahre frei, munter und muthig. Jetzt hat mein ganzer Charakter einen politisch philosophischen Schwung erhalten, und zwar sehr unmerklich. Ich bin plötzlich von Wittenberg weggegangen, um mich allein zu haben. Des jugendlichen Lärms hab ich genug. Hier erwart ich gelassen den Ruf meines Schicksals, denn mein Leben ist schon fertig – Ich habe nur einen Zweck – der ist überall erreichbar, wo ich thätig sein kann – doch hab ich mir nicht, wie ein Spießbürger, allzu enge Gränzen gemacht – Bleib ich gesund, so muß ich ein Maximum für mich erreichen. Ich bin wenigstens jeder Art von Aufklärung fähig, und dies einzige berechtigt mich vielleicht schon zu kühnen Ansprüchen. Ich will Dich ruhigen Bürger nicht langweilig von meinen Träumen unterhalten – doch wisse, daß ich gewiß Deiner würdig bleibe und werde. Wir können doch eine Bahn gehn – Vergiß meine zweiundzwanzig Jahr auf einen Augenblick und laß mir den Traum – vielleicht wie Dion und Plato. Heutzutage muß man mit dem Titel Traum doch nicht zu verschwenderisch sein. Es realisieren sich Dinge, die vor zehn Jahren noch ins philosophische Narrenhaus verwiesen wurden. Magnis tamen excidit ausis. In einem Monat muß viel für mich entschieden sein – in der Wahl des Weges blos. Du erfährst alles – sowie ich doch auch von Dir etwas erfahre. Was macht denn Schweinitz und Carlowitz? Auch nicht ein Wort schreibst Du. Mich interessiert jetzt zehnfach jeder übergewöhnliche Mensch – denn eh die Zeit der Gleichheit kommt, brauchen wir noch übernatürliche Kräfte. Du glaubst nicht, lieber Junge, wie ganz ich jetzt in meinen Ideen lebe. Es sind die Tage des Brautstandes – noch frei und ungebunden und doch schon bestimmt aus freier Wahl – Ich sehne mich ungeduldig nach Brautnacht, Ehe und Nachkommenschaft. Wollte der Himmel, meine Brautnacht wäre für Despotismus und Gefängnisse eine Bartholomäinacht, dann wollt ich glückliche Ehestandstage feiern. Das Herz drückt mich – daß nicht jetzt schon die Ketten fallen wie die Mauern von Jericho. So leicht der Sprung, so stark die Schwungkraft – und so stark der weibischte Kleinmuth. Staarbrillen sind nötig – zum Staarstechen ist die Zeit noch nicht. Aber immer ein Zirkel – zum Freidenken gehört Freiheit, zur Freiheit Freidenken – zum Zerhauen ist der Knoten – langsames Nisteln hilft nichts.
Schreibe mir bald wieder – meine Antwort soll nicht zaudern – und vergiß nie wieder, daß ich Dich nicht vergessen kann und daß es Hypothese, pure, blanke Hypothese war von der divergirenden Bahn – Ein Schuß in die blaue Luft. Unser Gang muß Approximation sein – bis wir beide von einer Flamme anzünden, links und rechts um uns her, wie zu Weihnachten, wo denn das neue Jahr acht Tage darauf fällt.
F. v. Hardenberg
Metadata Concerning Header
  • Date: Freitag, 1. August 1794
  • Sender: Novalis ·
  • Recipient: Friedrich von Schlegel ·
  • Place of Dispatch: Weißenfels · ·
  • Place of Destination: Pillnitz · ·
Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 23. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule (15. September 1788 ‒ 15. Juli 1797). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Ernst Behler u.a. Paderborn u.a. 1987, S. 205‒208.
Language
  • German

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