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Caroline von Schelling to Friedrich von Schlegel

... fiel dann ein, daß Sie, der Sie doch aus der Schule sind, durchaus müßen das Schöne nicht aus dem moralischen Gebiet verbannt haben – wie könten Sie ihm sonst seine Gränzen im Genuß der Liebe bezeichnen? Darüber geben Sie mir doch Waffen in die Hand, durch die ich meinen angebeteten Gegner auf eignen Grund und Boden niederwerfen kan.
Friz, es giebt 2 Bücher, die Sie lesen müßen, und das Eine derselben knüpft sich in meiner Errinnerung an die Materie vom Wißen an. Das ist Condorcet. Er gehört in Ihr Fach – indem Sie die Stuffe der Cultur eines Volkes, und den Werth dieser Cultur, gegen den Begriff, den wir von frühster menschlicher Vollkommenheit haben können, gehalten, bestimmen wollen. Von Ihrer einzelnen großen Umschwingung weiß Condorcet nichts – aber von den Schwingungen ins Unendliche mehr, wie wir beyde je davon geträumt haben. Er legt sehr großen Accent aufs Wißen – durch Erkentniß baut er uns Brükken in die himmlischen Gefilde. So sehr ich nun selbst jezt das Nöthige und Erfreuliche deßelben einsehe, so kan ich mich denn doch in meiner Dehmuth – wie die Dehmüthigsten oft die Stolzesten sind nicht enthalten, zu meinen, daß dem, der den kunstreichern Instinkt des Brückenbauens entbehrt, der <einfache> Instinkt des Fliegens gegeben ist, durch welchen die Lerche an einem schönen Morgen hoch in den Lüften schwebt. Das Gleichniß vom Adler der zur Sonne dringt, war mir hier doch zu prächtig. Condorcet schreibt mit großen Ansichten, aber vielleicht war sein Geist doch nicht ganz frey – nicht als feßelte ihn der Druck der Lage – ich sehe ein andres Stück Feßeln, und er hält sie für ein Ausmeßungswerkzeug und paßt sie an alles an – mit einem Wort – er wendet die Mathematik und die Berechnung nicht nur auf das Sinnliche, sondern auch auf das Unsinnliche an, das sie erzeugte. Sie werden sehn, wie flüchtig er die Sittlichkeit des Menschen berührt, und wie sie sich aus den Zahlen, als Zahl ergeben soll, und nicht einmal für die Summe der Rechnung gehalten wird. Und wir haben sie doch nicht zu suchen unter den Himmelscörpern, wohin die Leiter der Zahlen reicht – sie ist nicht dort – sie ist hier – ja das Gefühl, mit dem wir von jener Betrachtung <anbetend> zurückkehren, ist es nicht, worin sie vorzüglich liegt. Die Verhältniße zum Menschen sind dem Menschen wichtiger wie die zum Schöpfer, und mir hat es sogar oft geschienen als hingen sie nur schwach zusammen. Freylich deutet das darauf hin wie viel Stuffen wir noch zu durchwandern haben wozu uns denn die Ewigkeit ihre Zeit gönnen wird. Nur auf der Erde, fürcht ich, ist unser Loos begränzt – und der Mangel, den ich im Condorcet, in eines Menschen Übersicht der Menschheit fühle, mahnt mich sehr an die Unvollkommenheit, welche er im Bilde mir entrücken möchte – wenn es auch nicht der Blick auf das Nächste thäte – auf alle die Vorurtheile, die er in seinem Zirkel weniger sah, da er unter den geistreichsten Menschen einer geistreichen Nation in ihrem gespanntesten Moment lebte – auf den bösen Willen, auf die Plattheit, über welche sich immer nur so wenige Einzelne erheben.
Daß Sie mir nicht versäumen, dies und die Werke eines gewißen Fulda zu lesen, der ein Magister mit recht ächten originellen Menschengefühl gewesen seyn muß. Manches an ihm hat uns an Sie erinnret.
Metadata Concerning Header
  • Date: Juni 1795
  • Sender: Caroline von Schelling ·
  • Recipient: Friedrich von Schlegel ·
  • Place of Dispatch: Braunschweig · ·
  • Place of Destination: Pillnitz · ·
Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 23. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule (15. September 1788 ‒ 15. Juli 1797). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Ernst Behler u.a. Paderborn u.a. 1987, S. 235‒236.
Language
  • German

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