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Novalis to Friedrich von Schlegel

Freyberg: den 7ten November. 1798.
Du erhältst diese Antwort über Jena, weil ich mich auf meinen Brief an die Schwägerinn beziehn will, den ich Sie gebeten habe, Dir mitzutheilen. Nun wünscht ich nicht, daß Du die Citation, ohne das Citat, erhieltest und sende diesen Brief also nach Jena, um von dort mit der nöthigen Beylage an Dich abzugehn. Dein Brief hat mich in der Überzeugung <von> der Nothwendigkeit unsers Zusammendaseyns bestärckt. Wenn Du Dich immer mehr in mich findest, so erkenne ich Dich auch meinerseits immer mehr. Eins von den auffallenden Beyspielen unserer innern Symorganisation und Symevolution ist in Deinem Briefe. Du schreibst von Deinem Bibelproject und ich bin auf meinem Studium der Wissenschaft üb[er]ha[upt] – und ihres Körpers, des Buchs – ebenfalls auf die Idee der Bibel gerathen – der Bibel – als des Ideals jedweden Buchs. Die Theorie der Bibel, entwickelt, <giebt> die Theorie der Schriftstellerey oder der Wortbildnerey üb[er]h[aupt] – die zugleich die symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes abgiebt. Du wirst aus dem Brief an die Schwägerinn sehn, daß mich <eine> vielumfassende Arbeit beschäftigt – die für diesen Winter meine ganze Thätigkeit absorbirt.
Dies soll nichts anders, als eine Kritik des Bibelprojects – ein Versuch einer Universalmethode des Biblisirens – die Einleitung zu einer ächten Encyklopaedistik werden.
Ich denke hier Wahrheiten und Ideen im Großen – genialische Gedanken zu erzeugen – ein lebendiges, wissenschaftliches Organon hervorzubringen – und durch diese synkritische Politik der Intelligenz mir den Weg zur ächten Praxis – dem wahrhaften Reunionsprozess – zu bahnen.
Ich habe Dir mit Fleiß die Aufgabe mit mehreren Ausdrücken hingesetzt um eine vollständigere Antwort in Betreff Deiner Bibel Idee, zu erhalten.
Je länger wir mit einander umgehn, desto mehr werden wir uns auf einander besinnen und des Geheimnisses unsrer Entzweyung immer theilhaftiger werden.
Deine Fragmente und das Bruchstück von [Wilhelm] Meister versteh’ und genieß’ ich immer mehr.
Einen wünscht ich noch in unsre Gemeinschaft – Einen, den ich Dir allein vergleiche – Baadern.
Seine Zauber binden wieder,
Was des Blödsinns Schwerdt getheilt.

Ich habe jezt seine ältere Abh.[andlung] vom Wärmestoff gelesen – A[nn]o [17]86 welcher Geist? Ich denke an ihn zu schreiben – Könnte er nicht zum Athenaeum eingeladen werden? Vereinige Dich mit Baadern, Freund – Ihr könnt ungeheure Dinge leisten.
Schelling ist jezt auch mit der Mathematik handgemein geworden – Schreibt er auch hier zu schnell, so muß er Lehrgeld, wie <mit> den Ideen bezahlen. Es ist ein sonderbares, modernes Phaenomén, das nicht zu Schellings Nachtheil ist, daß seine Ideen schon so welk, so unbrauchbar sind – Erst in neuesten Zeiten sind solche kurzlebige Bücher erschienen. <Auch> Deine Griechen und Römer sind zum Theil <eine> solche interessante Indication der zunehmenden Geschwindigkeit und Progression des menschl.[ichen] Geistes.
Mit der Kürze der Lebensdauer wächst der Gehalt, die Bildung und Geistigkeit. <Die> Bücher nähern sich <jezt> den Einfällen – <Einmal> vorübergehend – aber schöpferische Funken.
Wenn es mir gelänge einen solchen Funken – als Lebensthätigkeit zu fixiren?
Von den Propylaeen im Briefe an die Schwägerinn. Den Almanach hab ich noch nicht.
Deine Lucinde reizt mich im voraus, wie die Venus Callipygis – von der sie gewiß eine Schwester seyn wird.
Kants Streit der Facultaeten ist ein schönes Advocatenspecimen – ein Gewebe feiner Chikanen. Kant wird jezt, wie ihr Leibnitz beschuldigt, juristisch – und ist es von Anfang an, etwas gewesen. Die phil.[osophische] Facultaet ist, wie der ärgste Sünder, am besten zu vertheidigen. Die phil.[osophische] Darstellung dieses Streits wäre die schönste Defension der phil.[osophischen] Facultaet gewesen. Kant ist, in Beziehung auf die Bibel, nicht a la Hauteur. Leibnitzen scheint mir Schleyermacher sehr unrecht zu behandeln – die einzige Stelle von der Comb.[inatio] Anal.[ytica] ist alle Lobeserhebungen werth, die man ihm gegeben hat.
Lebe wohl – lieber Schlegel, und behalte lieb
Deinen Freund Hardenberg.
Metadata Concerning Header
  • Date: Mittwoch, 7. November 1798
  • Sender: Novalis ·
  • Recipient: Friedrich von Schlegel ·
  • Place of Dispatch: Freiberg · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 24. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäums (25. Juli 1797 ‒ Ende August 1799). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Raymond Immerwahr. Paderborn 1985, S. 194‒196.
Language
  • German

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