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Friedrich von Schlegel to Novalis

Berlin, den 2. Dezember.
Allerdings ist das absichtslose Zusammentreffen unsrer biblischen Projekte eines der auffallendsten Zeichen und Wunder unsres Einverständnisses und unsrer Mißverständnisse.
Ich bin eins darin mit Dir, daß Bibel die litterair.[ische] Centralform und also das Ideal jedes Buchs sei - aber mit mannichfachen ganz bestimmten Bedingungen und Unterschied. Auch das Journal, der Roman, das Compendium, der Brief, das Drama pp. sollen in einem gewissen Sinne Bibel seyn, und doch das bleiben, was ihr Name und sein Geist bezeichnet und umfaßt. Nun habe ich aber eine Bibel im Sinne, die nicht in gewissem Sinne, nicht gleichsam sondern ganz buchstäblich und in jedem Geist und Sinne Bibel wäre, das erste Kunstwerk dieser Art, da die bisherigen nur Produkte der Natur sind. Die, welche es verdienen unter ihnen, müssen, um jenes Projekt zu realisiren, als klassische Urbilder gesetzt, wie die griechischen Gedichte von Göthe praktisch und von mir theoretisch als solche für die Kunst der Poesie gesetzt sind.
Soviel ich ahnde, hat Dein Werk mehr Analogie mit einem idealen Buch von mir über die Principien der Schriftstellerei, wodurch ich den fehlenden Mittelpunkt der Lektüre und der Universitäten zu constituiren denke. Die Fragmente von mir und die Charakteristiken betrachte als Seitenflügel oder Pole jenes Werkes, durch das sie erst ihr volles Licht erhalten werden. Es sind classische Materialien und classische Studien oder Experimente eines Schriftstellers, der die Schriftstellerei als Kunst und als Wissenschaft treibt oder zu treiben strebt: denn erreicht und gethan hat dies bis jetzt so wenig ein Autor, daß ich vielleicht der erste bin, der es so ernstlich will. – Meine Encyclopädie wird nichts seyn als eine Anwendung jener Principien auf die Universität, das Gegenstück zu dem ächten Journal. –
Mein biblisches Projekt aber ist kein litterairisches, sondern – ein biblisches, ein durchaus religiöses. Ich denke eine neue Religion zu stiften oder vielmehr sie verkündigen zu helfen: denn kommen und siegen wird sie auch ohne mich. Meine Religion ist nicht von der Art, daß sie die Philosophie und Poesie verschlucken wollte. Vielmehr lasse ich die Selbständigkeit und Freundschaft, den Egoism und die Harmonie dieser beiden Urkünste und Wissenschaften bestehn, obwohl ich glaube, es ist an der Zeit, daß sie manche ihrer Eigenschaften wechseln. Aber ganz ohne Eingebung betrachtet, finde ich, daß Gegenstände übrigbleiben, die weder Philosophie noch Poesie behandeln kann. Ein solcher Gegenstand scheint mir Gott, von dem ich eine durchaus neue Ansicht habe. Die beste Philosophie wird am geistlosesten und trockensten von ihm reden oder ihn sacht aus ihren Grenzen schieben. Das scheint mir ein Hauptverdienst von Kant und Fichte, daß sie die Philosophie gleichsam bis an die Schwelle der Religion führen und dann abbrechen. So lustwandelt von der andern Seite auch Goethes Bildung in den Propyläen des Tempels. Du wirst die Mittelglieder leicht hinzudenken und Dir einen Ueberblick der Sachen, der Gedanken und Gedichte verschaffen, die nur in Evangelien, Episteln, Apokalypsen und dergl. dem Zeitalter enthüllt werden können. –
Noch von einer andern Seite. Man spricht und erzählt seit etwa hundert Jahren von der Allmacht <des Wortes> der Schrift und was weiß ich sonst noch. Im Vergleich mit dem, was da ist und was geschieht, scheint mir das nur ein mißlungner Scherz zu seyn. Ich bin aber gesonnen, Ernst daraus zu machen und die Leute mit ihrer Allmacht beim Wort zu nehmen. Daß dies durch ein Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller werden. Uebrigens weißt Du, wie ich auch kleinere Ideen adle und umfasse, und für diese, die das Herz und die Seele meines zeitigen und irdischen Lebens ist, fühle ich Muth und Kraft genung, nicht bloß wie Luther zu predigen und zu eifern, sondern auch wie Mohammed mit dem feurigen Schwerdt des Wortes das Reich der Geister welterobernd zu überziehn oder wie Christus mich und mein Leben hinzugeben. – Doch vielleicht hast Du mehr Talent zu einem neuen Christus, der in mir seinen wackern Paulus findet. Wenigstens ist die eine Aehnlichkeit da, daß eine gewisse Energie und Furie der Wahrheit nur da entstehen kann, wo redlicher Unglaube nicht aus Unfähigkeit, sondern aus Schwerfälligkeit voranging.
Lebte Lessing noch, so brauchte ich das Werk nicht zu beginnen. Der Anfang wäre dann wohl schon vollendet. Keiner hat von der wahren neuen Religion mehr geahndet als er. Nicht blos Kant ist hier weit zurück, sondern auch Fichte und Jacobi und Lavater. Einige Millionen der letzten Sorte in den Schmelztiegel geschüttet, geben noch [nicht] soviel solide Materie und reinen Aether der Religion, wie Lessing hatte.
Doch laß das kein Kriterium sein, ob Du mit mir einstimmen kannst. Die eigentliche Sache ist die, ob Du Dich entschließen kannst, wenigstens in einem gewissen Sinne das Christenthum absolut negativ zu setzen. – Ich konnte Dir wohl beistimmen, da Du es positiv setztest, weil ich Deine Lehre von der Willkür und die Anwendung derselben aufs Christenthum nicht blos verstand, sondern anticipirt habe. Aber freilich war, was für Dich Praxis, für mich nur reine Historie. Daher der Dualismus unsrer Symphilosophie auch über diesen Punkt. Ein halbes Verstehen und ein halbes Einverstehen war hier möglich, da Praxis und Historie in Deiner Religion bisher in unaufgelöster Gährung sind. Gelingt es mir, beide gegenseitig zu saturiren und zur völligsten Harmonie zu vermischen, so kannst Du dann freilich nur ganz einstimmen oder ganz nicht. Vielleicht hast Du noch die Wahl, mein Freund, entweder der letzte Christ, der Brutus der alten Religion, oder der Christus des neuen Evangeliums zu sein.
Mich däucht, dieses neue Evangelium fängt schon an sich zu regen. Außer jenen Indikationen der Philosophie und Praxis überhaupt regt auch sich die Religion bei den Individuen, die ganz eigens unsre Zeitgenossen sind und zu den wenigen Mitbürgern der anbrechenden Periode gehören. Nur einige Beispiele. Schleiermacher, der zwar wohl kein Apostel, aber ein geborner Recensent aller biblischen Kunstreden ist, und wenn ihm nur ein Wort Gottes gegeben würde, gewaltig dafür predigen würde, arbeitet auch an einem Werk über die Religion.
Tieck studirt den Jacob Böhme mit großer Liebe. Er ist da gewiß auf dem rechten Wege. Nun noch eine Bemerkung: giebt die Synthesis von Göthe und Fichte wohl etwas anders als Religion? Wie bald aber muß diese Synthesis nicht blos an der Tagesordnung, sondern auch allgemein seyn, da das Mißverhältniß beider zum Zeitalter, welches allein aus ihrer persönlich betrachtet unabänderlichen Trennung entspringt, schon so ungeheuer auffällt, und da die Keime zu den Mitteln und Werkzeugen dieser Synthesis schon im Lessing liegen, und nun im Wolf wieder andere rege werden, Schelling und Hülsen nicht zu erwähnen, die ich als Fühlhörner betrachte, so die Schnecke der isolirten Philosophie gegen das Licht und die Wärme des neuen Tages ausstreckt.
Ist es nicht möglich, daß Du unser letztes Gespräch auf irgendeine Art fortsetzest?
Das Athenaeum bricht wieder los mit neuem Titel und Verleger. Schick also ja, was Du hast und geben willst, sobald Du kannst. – Wie stehts mit den christlichen Fragmenten? Darauf wäre ich sehr begierig.
Wenn Du unsre romant[isch]-philos[ophischen] Briefe über Natur und Physik für nicht ausführbar hältst, so vergönne wenigstens, daß ich meine Ideen darüber, so es mir zweckmäßig scheint, in einem epistolischen Monolog an Dich richte; und versäume nur nicht die Form der Briefe, die Dir gewiß sehr angemessen ist. Du kannst ja Fragmente, Gedichte, kleine Romane darin mischen, wie sichs fügt.
Von mir kann ich Dir noch nichts Gewisses sagen. Nur ist es wahrscheinlicher, daß ich Ostern von hier gehe, als daß ich hier bleibe. Uebrigens hat sich auch nichts verändert, und ich habe also eher Ursache, die Bitte in meinem letzten Briefe, von dem ich hoffe, daß Du ihn richtig erhalten (er war an Dich unmittelbar nach Freiberg addressirt) hast, zu wiederholen und zu bestätigen. Ich wünsche bald von Dir und Deinen Projekten zu hören.
Ich habe Dir geschrieben, wie sich schreiben läßt. Wie viel besser wäre es, wir könnten uns über unsre neuen Projekte sprechen. Ist es denn nicht möglich? –
Schl[eiermacher] sagt mir eben, es gebe noch ein Freiberg in Schlesien, und es ist also sehr zweifelhaft, ob mein letzter Brief an Dich gekommen. – Er enthielt bloß eine species facti meiner häuslichen Lage und eine Frage und Bitte, und läßt sich mit wenigen Worten wiederholen. – Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Freundin, von der ich Dir im Anfang meines Hierseins vor etwa 15 Monaten schrieb, und die allmälig meine Frau geworden ist, sich gegen Ostern von ihrem bürgerlichen Manne auch öffentlich scheiden läßt, wie sie seit Jahren im stillen von ihm geschieden war. Nun wird zwar wohl die Rückgabe ihres kleinen Vermögens, wenn wir gütlich scheiden, am wenigsten Schwierigkeiten machen. Aber eben das ist sehr zu bezweifeln, und dann könnte ihre Freiheit und meine Ruhe an dem Besitz einer baaren Summe hängen. Durch die häuslichen und litter[arischen] Verdrießlichkeiten bin ich aber gerade jetzt nicht nur an Geld, sondern auch an Credit sehr arm geworden. Nun frug und frage ich Dich, ob Du mir, ohne Dich oder Deinen Bruder zu compromittiren, wohl eine Summe von etwa 200 Thalern verschaffen könntest?
Kannst Du [Dich] nicht, wenn Du einmal in Dresden bist, von Gareis für mich malen lassen?
Noch einiges. – Die vollsten Keime der neuen Religion liegen im Christenthum; aber sie liegen auch da ziemlich vernachlässigt. –
Der Buchstab ist der ächte Zauberstab. –
Alle Wünsche der Liebenden und alle Bilder der Dichter sind buchstäblich wahr: nämlich der classischen Dichter, der ächten Liebenden.
Eine Frage über Baader, den ich noch so gut wie gar nicht kenne. Schließt er sich an Fichte an wie Schelling und Hülsen und ist etwa ein chaotischer Mittelpunkt für diese beide? oder ist er ein Sohn der neuen Zeit, und hat etwa in der Mitte der Physik so originell begonnen, wie ich aus den Tiefen der Kritik? – Dann könnte ich die Polarität unsrer Geister für den Deinigen begreifen und dann wäre sie nicht blos subjektiv. Aber dann habe ich nicht nöthig, mich noch mit ihm zu verbinden. Ich bin es schon, nämlich in Dir, und was durch diese Vereinigung geschehn könnte muß also allein durch Dich zu Stande kommen. –
Die neue Religion soll ganz Magie sein. Das Christenthum ist zu politisch und seine Politik ist viel zu material. Eine symb[olisch] mystische Politik ist ja anderseits erlaubt und wesentlich.
Metadata Concerning Header
  • Date: Sonntag, 2. Dezember 1798
  • Sender: Friedrich von Schlegel ·
  • Recipient: Novalis ·
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Freiberg · ·
Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 24. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäums (25. Juli 1797 ‒ Ende August 1799). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Raymond Immerwahr. Paderborn 1985, S. 204‒208.
Language
  • German

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