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Johann Gottlieb Fichte to Johanna Fichte

Meine theuerste Freundin!
Kein Wort über die Begier, mit der ich Ihren Brief, wie ein Dieb und ungeschickt genug, zu mir steckte, mit ihm nach Hause eilte, mich auf mein Zimmer einschloß, und ihn, nicht wie ich sonst wohl pflege, mit Heishunger verschlang, sondern mit langsamem Genusse, Zug für Zug hinunterschlürfte!
Ich eile vor allen Dingen auf Ihre Fragen zu antworten. – Ob vielleicht meine Freundschaft für Sie aus Mangel an anderm weiblichen Umgange entstanden? – Hierauf glaube ich entscheidend antworten zu können: Ich habe mancherlei Frauenzimmer gekannt, und bin mit ihnen auf mancherlei Fuß gestanden; ich habe Mancherlei empfunden, wo nicht die verschiedenen Grade, doch höchst wahrscheinlich die verschiedenen Arten der Empfindungen gegen ihr Geschlecht glaube ich durchlaufen zu haben; aber noch nie habe ich gegen Eine empfunden, was ich gegen Sie empfinde. So ein inniges Zutrauen, ohne Verdacht, daß Sie sich gegen mich verstellen könnten, und ohne Wunsch, mich gegen Sie zu verbergen; so eine Begierde, von Ihnen ganz so gekannt zu seyn, wie ich bin; so eine Anhänglichkeit, in die das Geschlecht auch nie den entferntesten merklichen Einfluß hatte; – denn weiter ist es keinem Sterblichen vergönnt, sein Herz zu kennen; – so eine wahre Hochachtung für Ihren Geist und Resignation in [/] Ihre Entschließungen habe ich noch nie empfunden. – Urtheilen Sie also selbst, ob es vom Mangel anderen weiblichen Umgangs herkam, daß der Ihrige einen Eindruck machte, den noch keiner gemacht hat, und mich eine ganz neue Art von Empfindung kennen lehrte. – Ob ich Sie in der Entfernung von Ihnen vergessen werde? – Vergißt man eine ganz neue Art von Seyn und die Veranlassung dazu? Oder werde ich auch einst vergessen, aufrichtig zu seyn? Oder wenn ich das vergessen könnte, verdiente ich dann noch, daß Sie sich bekümmerten, wie ich von Ihnen dächte?
Ob mir auf meiner Reise ein Unglück zustoßen könne? – Wie meine nächsten Schicksale seyn werden? – ob nun eben Ihr Papa, und nun eben bei Bernstorff reüssiren werde? – alles Dies ficht mich nicht an, und es wäre meiner und Ihrer Ruhe vortheilhafter, wenn Sie die Sorge dafür Dem überließen, dem ich sie überlasse, und der allein es besorgen kann. Daß ich auf meiner Reise für meine Gesundheit und Sicherheit sorge; daß ich mir traurige Schicksale erträglich, und glückliche unschädlich zu machen suche, ist meine Pflicht: – daß Ihr guter Papa, und alle guten Menschen, die es können und wollen, ihr Möglichstes thun, um mir nützlich zu werden, ist ihre Güte: – aber daß sie und ich reüssiren, – o wenn die ganze Welt so gütig seyn wollte, sich darüber krank zu sorgen; so würde die ganze Welt mit allen ihren Sorgen dazu Nichts thun können. Es ist unsere Sache, es an uns nicht fehlen zu lassen; aber der Erfolg steht ganz in den Händen des Ewigen. [/]
Der die Schickungen lenkt, heißet den frömmsten Wunsch,
Mancher Seligkeit goldnes Bild
Oft verwehen, und ruft da Labyrinth hervor,
Wo ein Sterblicher gehen will:
Oft erfüllet er auch, was das erzitternde
Volle Herz kaum zu wünschen wagt.
Der warme Antheil, der aus allen jenen Aeußerungen hervorblickt, die reizende Güte, die Sie mir allenthalben erzeigen, die Wonne, die ich empfinde, einer solchen Person nicht gleichgültig zu seyn – Theuerste, Sie sind es werth, daß ich Ihnen Nichts sage, das schon irgend einmal durch die Schmeichelei entweiht seyn könnte; daß der, den Sie Ihrer Freundschaft werth halten, sich nicht in falscher übelverstandener Bescheidenheit erniedrige. Ihre schöne offene Seele verdient es, daß ich mir auch nicht einmal den Anschein gäbe, als ob ich den reinen Abdruck derselben nicht für ächt erkenne: und deßhalb ist es auch von meiner Seite durchgängige Offenheit, die ich gelobe.
Metadata Concerning Header
  • Date: Februar 1790
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Johanna Fichte
  • Place of Dispatch: Zürich · ·
  • Place of Destination: Zürich · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 56‒57.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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