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Johann Gottlieb Fichte to Johanna Fichte

Ich kann nicht unterlaßen, theuerste, zärtliche Seele, Ihnen für die viele Güte zu danken, die Sie sowohl vorgestern, als gestern gegen mich gehabt haben, ob ich es gleich nur kurz werde thun können.
Ihr Arrangement wegen dieser Woche ist so gütig, daß ich mich selbst nicht lieben müste, wenn ich das geringste daran zu ändern suchte. Ich bin zwar gestern sehr in Versuchung geführt worden, schon den Sonnabend abzureisen: aber Sie werden es gern glauben, daß jede Versuchung schwach wird, wenn sie mit Ihren Arrangement’s in Collision kommt.
Auch daß Sie gestern Mittags meine Gegenwart in der Nähe Ihres Hauses sogleich bemerkten; dafür dank’ ich Ihnen tausendmal. – Es war kein Ohngefähr; das begreif’ ich sehr wohl: es war ein sehr rührender Beweiß Ihres beständigen gütigen Andenkens an mich. – Sie dachten gewis, als Sie in der Nähe des Fensters Ihrer Wohnstube sich aufhielten, an mich: Sie dachten gewiß, es sei sehr möglich, daß ich da vorbei gehen könnte; daß Sie mich sehen könnten. – Sehn Sie; ich blike zu weilen durch ein Spaltgen in Ihr Herz! Habe ich recht gesehn? – Ich glaube gewiß – und hätte ich es nicht – hätte ich doch nur dem Ohngefähr zu danken, was ich so gern Ihrer besonnenen Güte danken möchte, so laßen Sie mir die süße Täuschung. [/]
Aber spreche ich mir dadurch nicht selbst das Urtheil? Ich habe Sie aus meinen Fenstern noch nie bemerkt, ohnerachtet [Sie] oft vorbei gegangen sind – mit dem Andenken an mich, und mit dem Wunsche mich zu sehen, vorbei gegangen sind? – Ich bin also weniger aufmerksam, weniger zärtlich. – Ja, meine theuerste, Sie sind einmal bestimmt, mich in allem zu übertreffen. Sie sollen es auch in den liebenswürdigen kleinen Aufmerksamkeiten. Jedem, oder jeder andern würde ich diesen Vorzug beneiden, streitig machen: Ihnen gestehe ich ihn gern zu; denn ich habe mich schon gewöhnt, keinen Unterschied zwischen Ihrem, und meinem Ich zu machen; alle Liebenswürdigkeiten, und Tugenden, die ich Ihnen entdeke, als mein Eigenthum anzusehen; mich so darüber zu freuen, als ob ich selbst es sei, der sie hätte. – Und doch kann ich über den Punkt en question mich entschuldigen – leider ist es allemal schon schlimm, wenn man Entschuldigung braucht. In der Stunde, da Sie vorbei gehn, bin ich selten auf meinem Zimmer; und überhaupt komme ich zuweilen wohl in einer ganzen Woche nicht an’s Fenster. Entweder ich gebe Stunden, oder in den Freistunden bin ich beständig an mein Pult angekettet, so daß meine Aufwärterinn sagt; wenn ich stürbe, so würde mein Geist an diesem Pulte spuken. – Gestern zu Anfange der Abend-Kirche ging ich wieder vor Ihrem Hause vorbei in Hofnung Sie noch einmal zu sehen. Warscheinlich gingen Sie zu eben der Zeit vor’m Schwerdte vorbei, und sahen zu meinen Fenstern auf. Wäre ich auf meinem Zimmer gewesen, so [/] hätte ich Sie gesehen. Diese Berechnung hatte ich zwar gemacht; aber die Umstände erlaubten mir nicht, meine Maasregeln darnach zu nehmen.
Sie waren noch gütiger. Sie thaten mir Ihre Gegenwart zu wißen. Wie unangenehm war mir’s, daß ich nur durch Zeichen mit Ihnen reden konnte; daß ich so durch Ihr Gäßgen eilen muste, weil der Lohnbediente, den ich bei mir hatte, so vor mir weglief.
Warum aber verließen Sie doch die Promenade so bald? – Ohne Zweifel haben Sie gedacht, ich sei weg: aber ich begleitete nur D. Beyr’n, der sich übel befand, ein Stük nach Hause, kehrte zurük und fand – Sie nicht, aber Jgfr. Kilchspergerinnen, und die waren mir nun doppelt fatal.
Wie sehr hätte ich gewünscht Sie anreden zu dürfen! wie sehr verwünschte ich im Herzen die Zürcher Etiquette! – Ich klagte mit D. Beyr’n darüber, als wenn es blos ihm gälte. „Sie freuten sich – sagte ich ihm – gewis, Ihn restituirt zu sehen, und würden es Ihm gern sagen: aber so sei nun die Zürcher Welt“ – da faßte er Feuer, und war nicht übel willens, Sie selbst anzureden: aber indes muste er fort, weil ihm übler wurde.
Leben Sie wohl. Ich hoffe Sie zu sehen. Sie werden es doch heute besser anordnen, als bei der Toblerischen Visite? –
Mein Geist ist immer bei Ihnen gegenwärtig. Ihr
Sie liebender Freund.
Metadata Concerning Header
  • Date: Sonntag, 21. März 1790
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Johanna Fichte
  • Place of Dispatch: Zürich · ·
  • Place of Destination: Zürich · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 92‒94.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: B 19
Language
  • German

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