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Johann Gottlieb Fichte to Johanna Fichte

Stuttgard, d. Aprill.
Theuerste Geliebte meiner Seele
Aus einem Wirbel von Zerstreuungen entronnen, am Abend vor meiner Abreise von hier, schreibe ich Dir: sammelt sich meine Seele; und wo könnte sie sich sammlen? wo könnten alle Gefühle, alle Wünsche, alle Kräfte derselben sich vereinigen, als in Dir? Ich habe, Dank sei es Lavatern! anderthalb sehr angenehme Tage hier verlebt. Man hat mich in Stuttgard mit einer Distinktion aufgenommen, die alle Erwartungen übersteigt.
Der Madame Titot sage, daß ich die Herzoginn nicht hätte sprechen können, indem sie während meiner Anwesenheit nicht nach Stuttgard gekommen ist; daß ich ihr aber geschrieben habe – der Brief folgt als Beilage – daß man sich, d. h. Leute, die die Herzoginn kennen, von dem Briefe etwas verspricht; daß ich Hofnung habe, selbst Antwort zu erhalten; daß ich ihr eine neue Fürsprecherinn bei der Herzoginn, die sie oft sieht, eine gewiße Madame Ehrmann (von welcher weiter unten) verschaft habe. – Ich habe – und das sage der Titot nicht, – den eigentlichen Zusammenhang der Sache erfahren. Die Herzoginn ist würklich tief gerührt gewesen, u. hätte für sie das unmögliche möglich gemacht: der Herzog ist drüber verdrießlich gewesen, und hat ihr befohlen, sie, mit ein paar Louisd’or fortzuschiken: – die Absicht ist also würklich gewesen, sie mit ein paar Louisd’or Lavatern wieder über den Hals zu schiken. Hate [/] er das gemerkt? ist er darüber böse geworden? – Liebes Kind, wir müßen ihm alles verzeihen; er hatte doch Recht. Doch diese Nachricht ganz unter uns; sie ist von guten Händen; aber sie ist nicht communicable. – Der Herzog ist, troz seiner Bibelsammlung, immer noch Menschenfeind. – Die Herzoginn ist ganz für die Titot; aber sie kann nichts. So viel sie kann, will ich an meinem geringen Orte von ihr auspreßen; denn durch die Ehrmann kann ich sie nun quälen, wie ich will. – Ganz Stuttgard weiß die Geschichte, u. nimmt warmen Antheil.
Tritschlern habe ich gesprochen. Er ist Hofmann, Politikus, scheint nicht zu wißen, was Mangel ist; hat mir nicht gefallen, u. ich habe ihn nicht wieder gesehen. Dies braucht die zutrauliche Seele, Titot, nicht zu wißen. Wässerern gar nicht. Tritschler läßt der Titot sagen, sie solle nach Stuttgard kommen; ihre Freunde würden für sie sorgen; sie solle es aber erst schreiben. – Sage ihr das. – Ich zwar würde darauf nichts geben; aber laß sie immer reisen; wenn sie erst da ist, müßen sie sich doch schämen.
Jezt zur Ehrmann. Diese, an welche ich Briefe von Lavater hatte, ist eine geborne Zürcherinn, u. schreibt ein Journal, Amaliens Erholungsstunden für Frauenzimmer. Sie hat eine Menge fürstl. Personen zu Subscribenten, u. ihr Journal findet in ganz Deutschland, nur in Zürich noch nicht, eine Menge Abnehmerinnen. Sie hat mich sehr stark in ihr Intereße gezogen; und ohnedem muste ich wünschen, ihr zu dienen, weil sie der Titot für mich dienen soll. Du thust [/] mir einen Gefallen, wenn Du es unter Deinen Freundinnen bekannt machen, u. etwa Subscribentinnen sammlen könntest. Der Umstand, daß die Verfaßerinn eine geborne Zürcherinn sollte wohl auf den patriotischen Geist der Zürcherinnen würken. Es wird jeden Monat ein Heft von 6. Bogen geliefert: das äußerliche ist schön; es kostet jährlich 4. Fl. Reichsgeld. Das 6te Exemplar ist frei. Du schriebest gerade an Mad. Ehrmann, in der Expedizion des Beobachters zu erfragen; u. könntest hinzusezen, ich hätte Dir das Journal bekannt gemacht. – Du darfst es überdies sicher empfehlen. Ich habe es gelesen. – Zur Probe ist es bei Lavatern zu bekommen.
Nun erst, nach Beobachtung der Pflichten der Dienstfertigkeit zu uns. – Ich habe hier keinen Brief von Dir erhalten, u. das war unmöglich. Solltest Du mir geschrieben haben, so ist es sehr schlimm; denn da ich Deine Addreße nicht weiß, so kann ich keine Bestellung darüber machen. – Also erst in Weimar unter dem couvert an Herr Lips! – Ich werde mich genug sehnen; aber leider geht die Schule der Geduld schon an.
Grüße Deinen lieben herrlichen Vater. – Theile Herrn Achelis aus dem Briefe mit, was er wißen kann. Grüße Brünings.
Die Fortdauer meiner Liebe darf ich Dir nicht versichern; u. es ist mir sehr wohl in dem Gefühle, daß ich es nicht darf. Deine Briefe führe ich in meiner Brieftasche, u. lese sie alle Abende vor dem Schlafen, wenn Schlafnacht ist, zur Erholung von den Beschwerden des Tages durch.
Gott sei bei Dir, u. erhalte Dein edles Herz Deinem
F.reunde.
Pour Mademoiselle
Mademoiselle Rahn
Fille der Mr. le receveur de la douane
d. Einschluß.
a
Züric’
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 10. April 1790
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Johanna Fichte
  • Place of Dispatch: Stuttgart · ·
  • Place of Destination: Zürich · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 101‒103.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: B 21
Language
  • German

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