Single collated printed full text without registry labelling not including a registry

Johann Gottlieb Fichte to Johanna Fichte

Den 8ten Juni.
– – Wie magst Du leben, was machen, was denken, was lesen, was reden? – Sieh, so frage ich mich oft; denn fast jede Minute, die ich meinem Geiste frei gebe, fliegt er zu Dir. In der Dämmerung lasse ich erst nach einer halben Stunde mir Licht geben, und in dieser halben Stunde träume ich [/] mich hin zu Dir, setze mich an Deine Seite, schwatze mit Dir, frage, ob ich auch noch Dir lieb bin; – frage freilich: aber nicht aus Zweifel! Ich weiß schon, daß Du Ja antworten wirst. Die Sonnabende aber ist mein Geist sicher allemal bei Dir. Ich kann mich von diesen Sonnabendsgesellschaften noch gar nicht entwöhnen; ich glaube oft noch in Zürich zu seyn, nehme Sonnabends Hut und Stock, und will zu Dir, besinne mich dann, ärgere mich über mein Schicksal, und lache über mich!
Mein Leben ist sehr einförmig, und im Grunde sehr unschmackhaft. Meinen Mangel an Freunden habe ich Dir schon geklagt. Ich habe nur einen alten Bekannten getroffen, mit dem ich umgehe, eine herzensgute Seele; weiter aber nicht viel. Seine herrschende Beschäftigungsart – Stunden geben im Schreiben und Rechnen – sein gänzlicher Mangel an schönen Wissenschaften, die mein ganzes Labsal sind, und an Geschmack – sein eben so großer Mangel an Welt= und Menschenkenntniß, an Witz und Lebhaftigkeit: – denke, wie viel ihm mangelt, um ein Umgang für mich zu seyn! Hätte ich doch meinen braven Achelis hier! – A propos! War denn Achelis noch in Zürich, als Du meinen letzten Brief erhieltest? Ich habe mit eben der Gelegenheit ein Packet Briefe an ihn geschickt. – Wenn er nicht da gewesen wäre, so weiß ich nicht, wer die Briefe erbrechen soll. Sie sind an D. B., Escher, den jungen Ott, Lavater u.s.w.
Ich habe vor ein paar Tagen meinen ersten Zögling als Studenten getroffen. Er scheint ein feiner Mann zu seyn. Vielleicht finde ich an ihm einen Umgang, wie ich ihn wünsche; obgleich frei[/]lich einige Entfernung zwischen uns statt findet; und ich überhaupt keinen Studenten=Umgang haben mag.
Vorige Pfingstfeiertage war ich in Wurzen, einem Städtchen 5 Stunden von hier, wo ein Freund von mir Diakon ist. Ich machte da eine interessante Bekanntschaft in einer dasigen angesehenen Familie. Man staunte mich an, wie den Mann aus dem Monde, wegen meiner kleinen Excursionen, und meinen Mund durfte ich kaum schließen, so viel fragte man, so viel wollte man von mir wissen. – Ich kann aber freilich nur selten hinreisen.
In hiesige Familien Zutritt zu haben, ist einem Gelehrten fast unmöglich. Ich wünschte es – nicht des Vergnügens wegen, das ich da hoffen könnte – der ganze Ton hier ist unbegreiflich fade, — sondern um das theure Leipzig nur auch einmal in seinem Innern kennen zu lernen.
Es ist hier ein Gelehrter, der die Declamation nach einem hartnäckigen Studio von 20 Jahren in die Form einer Wissenschaft gebracht, und fast unwandelbar auf die Natur der Sache gegründet, und leicht faßliche Regeln für sie erfunden hat, auch besondere Noten für ein zu declamirendes Stück giebt; sie selbst mit der höchsten Vollkommenheit ausübt, und die trefflichsten Schauspieler gezogen hat. Bei diesem – sage das Deinem Vater – werde ich jetzt privatissima nehmen, und habe nichts Geringeres im Sinne, als nach ihm der Erste in dieser Kunst zu werden. Ich predige nicht mehr, bis ich ansehnliche Fortschritte darin werde gemacht haben. Mein ganzer Geist ist darauf gerichtet. Und dann – muß mein [/] Ruf gemacht seyn, oder es wäre kein Recht mehr in der Welt. Mein Sinn steht auf Weimar gerichtet, wo der Hof für dergleichen Dinge sehr viel Sinn hat. Jener Declamator, M. Schocher heißt er, hat aus Mangel an Unternehmungsgeist und aus Planlosigkeit nie den Gebrauch davon gemacht, den ich davon machen werde; sonst säße er nicht in der Dunkelheit und unbekannt in Leipzig. Uebrigens ist er kein Prediger.
Auf Dein Offenbacher Projekt bin ich sehr neugierig. Ich fürchte nur den Mangel an Canälen; denn fast errathe ich’s. Wenn Du nicht etwa welche hast, ich kenne keine! – Wie die Reformirten denken, weiß ich nicht genug; besonders in Gegenden, wie in der Nähe von Frankfurt der Fall ist, wo sie von den Lutheranern kein zu erbauliches Beispiel erhalten; wie die Lutheraner denken, weiß ich leider! Aber dies ist mein geringster Kummer. Verketzert werde ich immer werden, wäre es auch nur wegen meiner ketzerischen Nase; das ist nun einmal gewiß: und ein Prozent’chen auf und ab, thut immer nicht viel. Wie ich denke, weiß ich wohl; ich bin weder Lutheraner noch Reformirter, sondern Christ; und wenn ich zu wählen habe; so ist .mir, da doch einmal eine Christen=Gemeine nirgends existirt, diejenige Gemeine die liebste, wo man am freisten denkt, und am tolerantesten lebt, und das ist die lutherische nicht, wie mir’s scheint. Der Fürst aber ist zu fürchten; er soll etwas bornirt seyn, sagt man. – Doch wie viel schwatze ich über eine Sache, die ich noch nicht weiß! – Uebrigens ist es sehr leicht, T – s Nachfolger zu seyn. Er predigt, dies [/] ganz unter uns – sehr kalt, weil er im Herzen nichts glaubt.
Ich selbst habe ziemlich weit aussehende Projekte, denen ich ganz in der Stille entgegen arbeite. Auf mein Vaterland thue ich gänzlich Verzicht. – Gewiß herrscht unter den gegenwärtigen jüngern Geistlichen desselben, die sich alle durch schöne Wissenschaften (mehr als die [Zürcherischen]) [bilden] ein Grad der Aufklärung und der vernünftigen Religionskenntniß, wie ihn in dieser Ausdehnung gegenwärtig kein Land in Europa besitzt. Diese werden aber durch eine mehr als spanische Inquisition eingezwängt, unter die sie sich, theils weil es ihnen durchgängig an Kraft fehlt, theils weil man ihrer wegen der Menge von Geistlichen in unserm Lande entbehren kann, sie aber nicht das Amt, schmiegen, und heucheln müssen. Daraus entsteht denn eine knechtische, lichtscheue, heuchlerische Denkungsart! – Freilich steht bei dieser Lage eine Revolution bevor: aber wann? und wie? Kurz ich will in Sachsen kein Geistlicher seyn!
Meine Schriftstellerei! – o gute Seele, auch diese Quelle der Volksbelehrung ist sehr verunreinigt. Ich hatte ein Projekt, das mir gut und nützlich schien: eine Monatsschrift zu schreiben, in der ich vor geschmacklosen, zeit= und seelverderbenden Lesereien warnen, nützlichere empfehlen, den Geschmack des Publikums zu berichtigen suchen wollte. Ich habe mit sehr gutdenkenden Leuten, z. B. Weiße und Palmer, darüber gesprochen; Alle gestehen mir, daß das ein guter, nützlicher Gedanke, daß es ein Bedürfniß unseres Zeitalters sey – aber eben so sagen mir alle, daß ich dazu keinen Verleger finden werde. Ich habe, aus Verdruß darüber, meinen [/] Plan gar keinem Buchhändler mitgetheilt, und werde nun – nicht auch verderbende Schriften schreiben, – das werde ich nie – sondern Etwas, das weder gut noch böse ist, zubereiten müssen, um mir etwas zu verdienen. Ich arbeite an einem Trauerspiele, – ein Fach, das unter allen möglichen Fächern am wenigsten das meinige ist, und wo ich sicher nichts Kluges mache, – und an Novellen (kleinen romantischen Erzählungen) eine Leserei, die zu Nichts gut ist, als die Zeit zu tödten: aber, das würden die Buchhändler nehmen und bezahlen, sagt man. – Glaubst Du wohl, daß es möglich wäre, hier eine Predigt, und wenn man noch Geld zugäbe, gedruckt zu bekommen? – Doch – ich merke, daß ich in üble Laune komme; und mit der möchte ich Dich doch nicht gern anstecken; ich breche also ab, und rede von etwas, das bessere Laune giebt, von Dir.
Weißt Du wohl, was Du mir noch Alles, selbst in dieser Entfernung, bist? – Wenn ich Verdruß habe, daß ich so viele meiner Gedanken, keinen einzigen fast, in ein Menschenherz ausschütten kann; so denke ich Dich zu mir, und sage ihn Dir. Ich denke, was Du mir antworten würdest, und ich glaube, ich treffe es sehr richtig. – Wenn ich einsam spazieren gehe, so gehest Du an meiner Seite. Wenn ich finde, daß die hiesigen Spaziergänge durch die lange Gewohnheit, und durch die fade Einförmigkeit, die in ihnen herrscht, ihre Reize gänzlich für mich verloren haben; so zeige ich sie Dir; erzähle Dir, [/] was ich hier einst gedacht, hier gelesen, hier empfunden habe, – zeige Dir diesen Baum, unter dem ich einst gelegen, und das gedacht – jene Bank, auf der ich einst mit einem Freunde das gesprochen, und der todte Spaziergang erhält Leben. Da ist ein Garten in Leipzig, den keiner meiner Bekannten gut leiden kann, weil er sehr unbesucht und durch eine dicke Allee ganz verfinstert ist. Dieser Garten ist fast der einzige, der mir noch lieb ist, weil es der erste ist, den ich mit erst aufkeimenden Empfindungen beim Uebergange vom Knaben zum Jünglinge, in der Blüthenzeit kennen lernte; wo ich zuerst so mancherlei empfand. Hier führe ich Dich oft spazieren, und erzähle Dir die Geschichte meines Herzens.
Leb wohl, theure Geliebte, und bleib in meiner Einsamkeit mein Schutzgeist. Ich bin ewig und unverändert
Dein
F.
Viel Grüße an Deinen theuren Vater verstehen sich.
Metadata Concerning Header
  • Date: Dienstag, 8. Juni 1790
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Johanna Fichte
  • Place of Dispatch: Leipzig · ·
  • Place of Destination: Zürich · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 129‒132.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

Weitere Infos ·