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Johann Gottlieb Fichte to Johanna Fichte

Den 5ten September 1790.
An einem so angenehmen Sonntags=Morgen, als ein Herbst=Morgen nur immer seyn kann, setze ich mich hin, um meine Woche mit dem angenehmsten Geschäfte anzufangen, mit welchem ich sie anfangen kann; mit dem an Dich zu schreiben. – Ich [/] habe in der vorigen Deinen zärtlichen und liebevollen Brief erhalten. O! wie leid thut es mir, daß ich Dich so oft durch Verziehung meiner Antworten habe betrüben müssen. Jetzt will ich es nicht thun. Aber habe ich es wohl je thun wollen? Nein; das glaubst Du von mir gewiß nicht: aber ich habe es nicht ändern können.
Wie soll ich Dir die Zärtlichkeit belohnen, die sich in Deinem wiederholten liebevollen Bitten zeigt, nach Zürich zu kommen; in der Art zeigt, wie Du alle Schwierigkeiten zu heben denkst! Wird mein ganzes Leben hinreichen, mit Allem, was ich vermag, der Anhänglichkeit einer so schönen Seele würdig zu werden? Es ist Dir geweiht; Du weißt es; und hiemit weihe ich Dir auch alle meine Projekte und meinen unruhigen Ausbreitungstrieb, und will mein ganzes Leben darauf einschränken, mich von Dir glücklich machen zu lassen, und Dich glücklich zu machen, wenn ich’s kann. Ich gebe mich Dir in Allem hin; leite Du meine Schicksale, und ich weiß, sie sind wohl geleitet. Nur eine einzige Erinnerung erlaube mir jetzt. – Ich bin Deiner noch nicht würdig, und wenn auch Du mich dafür hieltest, so werden doch Deine Freunde, Deine Landsleute einen Menschen, der weder Amt noch Ruf hat, noch sich auf irgend eine Art bekannt gemacht hat, Deiner nicht würdig finden. Es wäre auffallend, wenn ich gleich jetzt in Zürich wieder erschiene, ohne seit der Zeit das Geringste gethan zu haben. Wie soll ich mich nennen? Laß mich also nur wenigstens erst meinen Anspruch auf den Namen eines Gelehrten rechtfertigen. Ich habe vor einiger Zeit eine Arbeit angefangen, die in die eigentliche Gelehrsamkeit, in [/] die höhere Philosophie einschlägt. Wenn Gott mir Gesundheit erhält, und mir nur dürftiges Auskommen beschert; so hoffe ich, daß sie künftige Neujahrsmesse die Presse verlassen wird. Ich werde sie unter meinem Namen herausgeben. Daß sie den dortigen Gelehrten bekannt würde, dafür werde ich schon sorgen. Dann erst könnte ich doch nicht ganz mit Unehre erscheinen, wenn ich einige Hoffnung gegeben hätte, daß ich nicht Willens wäre, mein Daseyn ganz unnütz für die Welt zu verleben. In diesem Falle hoffte ich nach Ostern künftigen Jahres die Reise anzutreten. Sollte ich dennoch, wie ich sehr befürchte, wieder eine Hofmeisterstelle annehmen müssen; so laß Dich dadurch ja nicht auf den Gedanken bringen, daß ich darum von diesem Plane abginge. Ich würde keine andere, als im Lande, und in der Nähe von Leipzig annehmen; meine Arbeit dennoch fortsetzen; sie nicht aus Neigung, sondern aus Noth annehmen; und künftige Ostern gewiß wieder aufgeben. Weiße will mich nach Livland oder Curland schicken; aber das wird in keinem Falle geschehen. Die Unannehmlichkeiten des Hofmeister=Lebens kenne ich zu gut, als daß ich mich von ihnen sollte schrecken lassen. Sie sind groß; aber doch sind sie zu ertragen.
Ueberhaupt habe ich vor meinem projektvollen Geiste Ruhe gefunden, und ich danke der Vorsehung, die mich kurz vorher, ehe ich die Vereitlung aller meiner Hoffnungen erfahren sollte, in eine Lage versetzte, sie ruhig und mit Freudigkeit zu ertragen. Ich hatte mich nämlich durch eine Veranlassung, die ein bloßes Ohngefähr schien, ganz dem Studium der Kantischen Philosophie hingegeben; einer Philoso[/]phie, welche die Einbildungskraft, die bei mir immer sehr mächtig war, zähmt, dem Verstande das Uebergewicht, und dem ganzen Geiste eine unbegreifliche Erhebung über alle irdische Dinge giebt. Ich habe eine edlere Moral angenommen, und anstatt mich mit Dingen außer mir zu beschäftigen, mich mehr mit mir selbst beschäftigt. Dies hat mir eine Ruhe gegeben, die ich noch nie empfunden; ich habe bei einer schwankenden äußern Lage meine seligsten Tage verlebt. – Ich werde dieser Philosophie wenigstens einige Jahre meines Lebens widmen; und Alles, was ich, wenigstens in mehreren Jahren von jetzt an schreiben werde, wird über sie seyn. Sie ist über alle Vorstellung schwer, und bedarf es wohl, leichter gemacht zu werden. Sollte ich in Zürich selbst, wo kein Einziger ist, der sie versteht, – dies unter uns! – denn wenn sie es gleich selbst öffentlich sagen, so könnte es ihnen vielleicht doch unangenehm seyn, wenn es Einer nachsagt, der sie zu verstehen glaubt, – Etwas beitragen können, sie bekannter zu machen, so würde es mir doppelte Freude seyn. Die Grundsätze derselben sind freilich kopfbrechende Speculationen, die keinen unmittelbaren Einfluß auf’s menschliche Leben haben; aber ihre Folgen sind äußerst wichtig für ein Zeitalter, dessen Moral bis in seine Quellen verdorben ist; und diese Folgen der Welt in einem anschaulichen Lichte darzustellen, wäre, glaube ich, Verdienst um sie. – Sage Deinem theuren Vater, den ich liebe, wie meinen: wir hätten uns bei unsern Untersuchungen über die Nothwendigkeit aller menschlichen Handlungen, so richtig wir auch geschlossen hätten, doch geirrt, weil wir aus einem falschen Principe disputirthät[/]ten. Ich sey jetzt gänzlich überzeugt, daß der menschliche Wille frei sey, und daß Glückseligkeit nicht der Zweck unseres Daseyns sey, sondern nur Glückswürdigkeit. – Auch Dich bitte ich um Verzeihung, daß ich Dich oft durch dergleichen Behauptungen irre geführt habe. Achelis hatte doch Recht, freilich ohne es zu wissen, warum? Glaube nur hinfort an Dein Gefühl; wenn Du auch die Vernünftler dagegen nicht widerlegen könntest; sie sollen auch widerlegt werden, und sind es schon; freilich verstehen sie die Widerlegung noch nicht! – Wie traurig die Grundsätze sind, die ich ehedem hatte, sehe ich unter Anderm an dem Beispiele eines mir sehr lieben Freundes, der sie vorlängst von mir annahm, ohne sie ganz fassen zu können, und der durch sie auf andere geführt wurde, die die meinigen nicht waren, und die auch nicht nothwendig daraus folgen. Er ist jetzt nicht glücklich, und findet keinen Trost in sich, weil er ein Ungläubiger ist. Er wünschte bessere Grundsätze, und kann sie nicht fassen; und mich kränkt’s, daß ich ihm die Hülfe, die er von mir in dieser Rücksicht erwartet, nicht leisten kann, da er in Dresden ist, und ich in Leipzig. Was schriftlich möglich ist, thue ich freilich; aber das ist für ihn zu wenig. Die etwanige Anlage, die ich zur Beredtsamkeit habe, werde ich aber neben diesem Studium nicht vernachlässigen; ja dies Studium selbst muß dazu beitragen, sie zu veredeln; weil es derselben einen weit erhabneren Stoff liefert, als Grundsätze, die sich um unser eigenes kleines Ich herumdrehen. Nach meinem Plane werde ich, nach meiner jetzigen Schrift, und nach einer, die darauf folgen wird, welche freilich nur für gelehrte Denker [/] bestimmt sind, Nichts thun, als eben diese Grundsätze populär, und durch Beredtsamkeit auf das menschliche Herz wirksam zu machen suchen. Diese Beschäftigung steht mit der Bestimmung eines Predigers in einer sehr nahen Beziehung; bin ich also noch zu derselben bestimmt, so würde sie zur Vorbereitung und Legitimation für diesen Beruf dienen. Bin ich aber nicht für denselben bestimmt, so habe ich wenigstens die Beruhigung, das gethan zu haben, was von mir abhängt: – mich zu demselben tüchtig zu machen. Das Weitere ist nicht meine Sorge. Von meinem Lehrer in der Declamation lerne ich in Absicht der Ausübung derselben Nichts, was ich nicht schon vorher wußte; allenfalls zur Beurtheilung der Declamation Anderer lerne ich mehr. Gepredigt habe ich seit meiner Abreise aus der Schweiz nicht, und werde auch, wenigstens in Leipzig, schwerlich predigen. Es wäre nach meinen jetzigen Planen verlorene Zeit; denn auch ein Tag ist mir kostbar.
Um Dich wegen Deiner sehr gütigen Sorge für meine Gesundheit zu beruhigen, so schreibe ich Dir meinen Lebenswandel, wie ich ihn seit ungefähr 5 Wochen führe; denn vorher war ich zu unstät, um eine feste Ordnung zu befolgen. Um 5 Uhr stehe ich auf, was mir Anfangs, weil ich Zeitlebens spät aufgestanden bin, sehr schwer ward: desto dringender suchte ich es von mir zu erzwingen, weil ich dadurch zugleich mich zur Selbstüberwindung zwingen wollte. Von da bis 11 Uhr (die halbe Stunde ausgenommen, die ich zum Ankleiden brauche) studire ich. Von 11 bis 12 Uhr gebe ich einem jungen Menschen eine griechische Stunde. Ich suchte sie mit Fleiß, um durch das ewige Denken für mich nicht die Gabe [/] Andern Etwas vorzutragen, zu vernachlässigen, und nach der Arbeit des Kopfs auch der Lunge Etwas zu thun zu geben. Von 12 bis 1 zu Tische, in einer erträglich artigen und unterhaltenden Gesellschaft. Von 1 bis 2 in einem der Stadt nahen Garten spazieren gegangen, und meistens dabei nicht viel Ernsthaftes gedacht. Von 2 bis 3 etwas Leichtes gelesen, oder Briefe geschrieben, wenn solche zu schreiben sind. Von 3 bis 4 gebe ich einem Studenten Privat=unterricht über die Kantische Philosophie; (dies war die Gelegenheit, die mich zum Studium derselben veranlaßte). Dies ist nun freilich von einer Seite eine Kopf angreifende, von der andern aber eine Arbeit, die zum Deutlich machen, also für die Einbildungskraft gehört, und also zur Herstellung des Gleichgewichts unter den Seelenkräften beiträgt. Von 4 bis 6 Uhr wird bei jeder Witterung, nicht spazieren gegangen, sondern gelaufen, und der Einbildungskraft völlig freier Lauf gelassen: durch Felder, durch Wälder gestürmt – besonders wenn es sehr regnet, oder windig ist. Von 6 Uhr bis zur Dämmerung wird wieder ein wenig studirt. Die Anwendung der ersten Dämmerung kennst Du schon. Sobald Licht kommt, wird ernsthaft fortstudirt; aber nicht länger als bis 10 Uhr. Urtheile selbst, ob eine solche Ordnung sehr Gesundheit zerstörend ist. Auch befinde ich mich wirklich, was ich theils dem frühen Aufstehen, theils der ernsthaften Kopfarbeit zuschreibe, so wohl, daß ich vor Gesundheit jauchzen möchte, den ganzen Tag völlig bei guter Laune bin, und an meinem ganzen Tage keine verdrießliche Minute kenne. Hierzu kommt aber noch eine Uebung, die die Gesundheit des Leibes und der Seele in gleichem Grade [/] befördert. Ich suche nämlich völlig Herr über mich selbst zu werden, und lege mir in dieser Absicht jetzt Etwas auf, was ich nicht gerne thue; versage mir jetzt Etwas, was ich gern gehabt hätte, blos darum, weil ich es gerne gehabt hätte; kündige jeder aufkeimenden Leidenschaft, so wie sie sich blicken läßt, den Krieg an, und so werde ich dann dieser Störer unserer Ruhe und unserer Gesundheit immer mehr entledigt.
Zu meinem Umgange habe ich nur einen Freund, bei welchem ich nicht viel gewinne. Ich suche dagegen ihn gewinnen zu lassen, und auch das giebt mir eine angenehme Beschäftigung.
Wie erriethest Du, daß Sachsen Unruhen bevorstehen? Wirklich hat seit einigen Wochen das Feuer des Aufruhrs im Stillen gelodert, und vorige Woche ist es in helle Flammen ausgeschlagen. In ganz Sachsen war vielleicht kein Ort ruhiger, als Leipzig. Die Bauern wütheten gegen ihre Herrschaften. Und – siehe den National=Charakter! – einige Regimenter sind marschirt; einige billiger denkende Herrschaften haben Etwas nachgegeben, und heute, da ich dieses schreibe, ist, nach allen Nachrichten, Alles ruhig. Schon vorher hatten eben auch die Bauern dem Churfürsten selbst wegen seines Wildhegens den Krieg angekündigt. Er gab nach, ließ sie sein Wild niederschießen, und, – sogleich war Alles gut. – An eine Verbesserung von Grund aus ist jetzt noch nicht zu denken. Der Bauer, welcher allein dabei gewinnen könnte, ist dazu noch nicht aufgeklärt genug, ohnerachtet er Schlözer’s Staatsanzeigen lieset; und die höhern Stände alle können dabei nur verlieren. Es sind also nur Palliative, die den ein[/]stigen Ausbruch des Feuers mit doppelter Kraft nicht verhindern werden. Von außen behält Sachsen Friede; so wie ganz Europa bald einen allgemeinen Frieden haben wird. Dennoch aber werde ich es an Deinem Arme, an Deiner Seite, in Deinem Umgange nicht vermissen. Sey Vaterland, und Freunde, und Alles Deinem Dir ewig ergebenen
F.
Metadata Concerning Header
  • Date: Sonntag, 5. September 1790
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Johanna Fichte ·
  • Place of Dispatch: Leipzig · ·
  • Place of Destination: Zürich · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 169‒174.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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