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Johann Gottlieb Fichte to Samuel Gotthelf Fichte

Leipzig d. 5. Merz. 1791.
Mein lieber Bruder,
Erst vor zwei Stunden habe ich Deinen Brief erhalten (denn entweder Du datirst Deine Briefe falsch, oder giebst sie erst spät auf die Post). Jezt habe ich die erste freie Stunde, und sogleich seze ich mich her, Dir zu antworten, und wenn die paar Stunden die von jezt bis zum Abgange der Post mein sind, zulangen, so geht noch heute mein Brief ab. Endlich habe ich einen Brief von Dir gelesen, wie ich sie von Dir zu lesen wünsche. [. . .] Freund. Ich weiß, Bruder, daß Du mich liebst, und ich fühle immer mehr [/] den Vortheil, einen Freund zu haben, den die Natur selbst für uns bildete, und den sie uns so wunderbar ähnlich schuf. Ich werde Dich immer lieben; nichts hat mein Herz gegen Dich erkältet, denn die letztern Vorfälle habe ich nicht auf Rechnung Deines Herzens, sondern auf Rechnung Deiner Jugend, und Deines Mangels an Welt= und Menschen=Kenntnis geschrieben. Und wenn ich solche Fehler nicht verzeihen könnte?
Habt Ihr nicht einen Brief von mir erhalten, der ohngefähr im Februar vorigen Jahres aus Zürich geschrieben war, und worinn ich meinen Entschluß wieder nach Sachsen zu kommen, ankündigte? Ich hoffe nicht, daß Fritsche aus seiner sehr knauserigten Oekonomie auch diesen zurükbehalten hat. Hat er das, so habe ich freilich bisher Unrecht zu haben geschienen; aber es nicht gehabt. Aber da niemand allwißend ist, so bitte ich, aber nur in diesem Falle, um Verzeihung. – Ich werde inzwischen die Sache mit den Briefen untersuchen. Ich verlies Zürich, weil es mir, wie ich mehrmals nach Hause geschrieben habe, in dem Hause, in welchem ich war, nicht ganz gefiel. Ich hatte von Anfange an eine Menge Vorurtheile zu bekämpfen; ich hatte mit starrköpfigten Leuten zu thun. Endlich, da ich durchgedrungen, und sie gewaltiger Weise gezwungen hatte, mich zu verehren, hatte ich meinen Abschied schon angekündigt; welchen zu widerrufen ich zu stolz, und sie zu furchtsam waren, da sie nicht wißen konnten, ob ich ihre Vorschläge anhören würde. Ich hätte sie aber angehört. Uebrigens bin ich mit großer Ehre von ihnen weggegangen: man hat mich dringend empfohlen; und noch jezt stehe ich mit dem Hause im Briefwechsel.
Ich ging mit den weitaussehendsten Aussichten und Plänen von Zürich: nicht um in Sachsen zu bleiben, sondern um in Leipzig den Erfolg meiner großen Pläne abzuwarten. Ich hatte [. . .] und war daselbst höher [. . .] Auf meiner Reise lernte ich große Personen kennen, die alle mich zu ehren schienen. Bewegungsgründe genug, um mir viel zuzutrauen. Ich war von Zürich aus dringend an den Premier Ministre in Dänemark, Graf von Bernstorf, an den großen Klopstok, u.s.w. empfohlen. Ich erwartete nichts weniger, als eine Minister Stelle in Coppenhagen. – Zu gleicher Zeit schrieb mir eine vornehme Dame aus Weimar: sie arbeite, und habe Hofnung, mich an einen Hof zu bringen. – Im kurzen scheiterten alle diese Aussichten, und ich war der Verzweiflung nahe. Aus Verdruß warf ich mich in die Kantische Philosophie (vielleicht ist Dir der Name einmal in einem der Bücher, die Du liesest, vorgekommen) die eben so herzerhebend, als kopfbrechend ist. Ich fand darin eine Beschäftigung, die Herz und Kopf füllte; mein ungestümer Ausbreitungs Geist schwieg: das waren die glüklichsten Tage, die ich je verlebt habe. Von einem Tage zum andern verlegen um Brod war ich dennoch damals vielleicht einer der glüklichsten Menschen auf dem weiten Runde der Erden. – Ich fing eine Schrift an, über diese Philosophie, die zwar wa[/]rscheinlich nicht herauskommen wird, weil ich sie nicht vollendet habe; der ich aber doch glükliche Tage, und eine sehr vortheilhafte Revolution in meinem Kopfe, und Herzen verdanke.
Eine neue Periode! Unter den Häusern, mit denen ich in Zürich sehr genau bekannt war, war das, eines Mannes von ohngefähr 70. Jahren, der mit dem besten Herzen viel Kenntniße und eine ungeheure Welt= und Menschenkenntniß vereinigte. Dieser Mann wurde durch einen vertrauten Umgang mit mir in die schönen Zeiten seiner Jugend zurükversezt. Er liebte mich, als ein Vater; und verehrte mich höher, als es meine Verdienste, oder seine Jahre eigentlich erlaubten. Dieser Mann hatte eine einzige Tochter, die unter seinen Augen aufgewachsen war; die noch nichts gefühlt hatte, als innige Verehrung dieses Vaters, und die von Jugend auf gewohnt war, alles mit den Augen ihres Vaters anzusehen. War es ein Wunder, daß, ganz ohne mein Zuthun, der Liebling des Vaters auch der der Tochter wurde? Welche Mansperson ist nicht scharfsinnig genug, Empfindungen von der Art bald zu entdeken, die noch dazu mir eben nicht verholen wurden? Mein Herz war leer, Charlotte Schlieben war schon längst daraus vertilgt. Ich ließ mich lieben, ohne es eben zu sehr zu begehren. – Ich reis’te von Zürich ab, nachdem wir einander unbestimmte Versprechungen gemacht, u. einen beständigen Briefwechsel verabredet hatten. Dieser Briefwechsel wurde von Ihrer Seite immer dringender, und zärtlicher. Endlich – und das fiel in jene Periode meiner Philosophie, meiner hohen Seelenruhe und meiner gänzlichen Gleichgültigkeit gegen allen Glanz der Welt – schrieb sie mir, ich solle, da meine Aussichten scheiterten, zu ihr nach Zürich kommen; das Haus ihres Vaters, und ihre Arme stünden mir offen. Ich besann mich in meiner damaligen Stimmung keinen Augenblick Ja zu sagen. Noch erwartet sie mich in der Mitte des Aprills, und will sich sogleich bei meiner Ankunft mit mir verheirathen. Ihr Vater hat mich in dem zärtlichsten Briefe eingeladen. Sie selbst ist die edelste, treflichste Seele; hat Verstand, mehr als ich, und ist dabei sehr liebenswürdig; liebt mich, wie wohl wenig Mannspersonen geliebt worden sind. Sie ist nicht ohne Vermögen, und ich hätte die Aussicht einige Jahre in Ruhe mein Studiren abzuwarten, bis ich entweder als Schriftsteller, oder in einem öffentlichen Amte, welches ich durch die Empfehlung einer Menge großer Männer in der Schweiz, die sehr viel von mir halten, und die Correspondenz in alle Länder Europas haben, wohl erhalten könnte, selbst ein Hauswesen unterhalten könnte. – Ich bin seit Michaelis fest entschloßen gewesen, diesen Antrag zu ergreifen; und noch da ich meinen leztern Brief schrieb, war ich der Meynung, und schrieb daher, daß ich zu Ostern nach der Schweiz gehen würde. Aber von einer andern Seite hat eine gewiße Begebenheit wieder meinen ganzen Durst in die Welt hinaus aufgewekt; ich liebe die Sitten der Schweizer nicht, und würde ungern unter ihnen leben, es ist immer eine ge[/]wagte Sache, sich zu verheirathen, ohne ein Amt zu haben; und endlich fühle ich zu viel Kraft und Trieb in mir, um mir durch eine Verheirathung gleichsam die Flügel abzuschneiden, mich in ein Joch zu feßeln, von dem ich nie wieder loskommen kann, und mich nun so gutwillig zu entschließen, mein Leben, als ein Alltags Mensch vollends zu verleben. – Ich bin also seit einiger Zeit sehr unentschloßen, ob ich gehen werde.
Gehe ich aber nicht, so weiß ich nicht, was ich anfangen werde. Ich habe mehreren Männern hier in Leipzig, die sich für mich intereßiren, gesagt: daß ich ihnen für ihre Güte danke; weil ich auf Ostern anderweitige Aussichten habe. Ich darf ferner dann nicht in Leipzig bleiben, weil meine Geliebte mich hier zu gut zu finden weiß; weil ich mich der Fortdauer eines Briefwechsels ausseze, der mir sehr beschwerlich werden würde; weil ich ihr die in meiner Seele vorgegangene Veränderung nicht plözlich sagen, sondern sie allmählich darauf vorbereiten will. – Muß ich aber Leipzig verlaßen, so bleibt mir nichts übrig, als Dreßden. Davon unten ein mehreres. [. . .]
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 5. März 1791
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Samuel Gotthelf Fichte
  • Place of Dispatch: Leipzig · ·
  • Place of Destination: Rammenau · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 221‒224.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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