Single collated printed full text without registry labelling not including a registry

Johann Gottlieb Fichte to Christoph Friedrich Gottlieb Wenzel

Herrn Wenzel, in Warschau.
Meine Geschichte in Warschau werden Sie ohne Zweifel bei Empfang dieses Briefes schon wißen. Ich will Zeit und Papier beßer anwenden, als dazu, sie zu erzählen. Es ist keine Schmeichelei, sondern es strömt aus ganzer Fülle meines Herzens, wenn ich [Sie] versichere, daß ich diesen Vorfall als das gröste Glük preisen würde, das mir je wiederfuhr, wenn er mich nicht der angenehmen Aussichten auf Ihren Umgang beraubt, nicht alle die schönen Luftschlößer umgeweht hätte, die ich mir mit Ihnen schon baute. Ich weiß nicht, ob Sie es je gefühlt haben, wie ich Sie liebte, wie mein Herz, das eines Freundes bedarf, u. <das> lange kaum Gesellschafter gehabt hatte, im Begriff war, sich an Sie anzuschließen. Aber – vielleicht will das Schiksal, das unsre Bildung weit von einander entfernt, dennoch mit einiger Gleichförmigkeit anhob, sie auch entfernt weiter fortsezen, u. wir sind nur bestimmt einander einst durch die Freude, uns vollkommener wieder zu finden, zu überraschen. Ich wenigstens werde auch in der Entfernung fortfahren Sie zu lieben, u. jede Gelegenheit zu ergreifen um es Ihnen zu sagen, wenn ich Ihnen dadurch nicht lästig werde, u. das erwarte ich von Ihrem guten ofnen Herzen nicht. – Verzeihen Sie, daß ich Ihnen auf Ihren Brief von Leipzig aus nicht antwortete. Die Abreise überraschte mich, u da ich von der Reise schrieb, suchte ich Sie nicht mehr in Leipzig. Hätte ich Ihnen doch meine Manuscripte gelaßen. Ich konnte sie in Dreßden nicht verhandeln, u. nun – sind sie mir entwendet
Meine Reise dauerte gegen 5. Wochen, hatte durch Sachsen, u. Schlesien, wo ich sie zu Fuße machte, ihre Freuden; u. durch Polen, wo ich mit Fuhrleuten ging, ihre Leiden. Ich wünsche, daß Sie derselben so wenig, als möglich, <mögen> erfahren haben.
Ich werde warscheinlich bis Michaelis in Königsberg bleiben, Kantische Philosophie studiren, alles anwenden, um meinem Geiste, der nun wieder so lange dienstbar war, einen neuen freien Schwung zu geben. Ob Kant, in Rüksicht auf welchen ich vorzüglich nach Königsberg ging, mir viel helfen werde, weiß ich noch nicht. Seine Collegia sind nicht so brauchbar, als seine Schriften. Sein schwächlicher Körper ist es müde einen so großen Geist zu beherbergen. Kant ist schon sehr hinfällig, u. das Gedächtniß fängt an ihn zu verlaßen. Bei Gelegenheit der Kantischen Philosophie, in der ich mich immer iniger weide – ich erwarte sie auch noch da. Ihr unverdorbenes Herz bedarf einer Moral, (versteht sich einer wißenschaftlichen, denn daß Sie eine für’s Leben haben, wer könnte daran zweifeln.) u. ich bin von Ihrer Consequenz überzeugt, daß sie Ihnen über kurz oder lang <sicher bestimmen> wird, daß Sie nach Ihren jezigen Prinzipien keine haben können.
Von Michaelis, vielleicht noch eher, stehe ich wieder unter der unmittelbaren Vormundschaft der Vorsehung.
Sie erhalten diesen Brief durch Fuhrleute von Königsberg, die im Hotel d’Allemagne, wo sie bei Ihrer Ankunft einkehrten, stehn[.]
Sind Sie noch nicht nach Lithauen abgereis’t, so haben Sie die Güte mir durch eben dieselben in ein paar Zeilen zu melden daß Sie gesund u. wohl sind, u. daß Sie mir erlauben zu sein
Ihr
<treu> Fd.
Metadata Concerning Header
  • Date: nach dem 4. Juli 1791
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Christoph Friedrich Gottlieb Wenzel
  • Place of Dispatch: Königsberg · ·
  • Place of Destination: Warschau · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 242‒243.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: B 364
Language
  • German

Weitere Infos ·