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Theodor von Schön to Johann Gottlieb Fichte

Etwas über Inclination.
Die Entstehung der Zuneigung bei Personen verschiedenen Geschlechts, ist ein Problem, über dessen Auflösung man schon viel geschrieben u. gestritten hat, da fast jeder Roman uns verschiedene EntstehungsGründe angiebt. Die meisten behaupten, es entstehe, aus einer Simpathie der Seelen, andere legen wieder blos Sinnlichkeit zum Grunde. Meine Meinung ist die Mittel-Straße zwischen beide, indem sie weder den Menschen in dieser Lage, blos zu einem geistigen Wesen macht, noch zum blossen Thier herabwürdigt: So bald wir anfangen die Kinderjahre zu verlassen, d. h. zu denken, u. nach GrundSätzen unsere Handlungen zu bestimmen, denken wir uns, wie in Erreichung der Moralität, u. der Ausbildung unserer Kräfte, so auch ein Ideal zu einem Freunde, denn den Trieb zur Geselligkeit bringen wir mit auf die Welt. – Da dieß Ideal unser Ziel ist, wonach wir streben, so werden bald HauptEigenschaften [/] dieses Ideals in unserem Charakter Wurzel fassen. – Je nachdem wir nun unsere Geistesfähigkeiten ausgebildet, je nachdem wird unser Ideal auch größer oder kleiner seyn. Findet man nun einige dieser Eigenschaften seines Ideals bei einer Person seines Geschlechts realisirt, so entsteht: Freundschaft, welche bey Personen verschiedenen Geschlechts, da GeschlechtsNeigung dazwischen tritt, wenn Vernunft uns nicht in Rüksicht des Unterschieds der Jahre oder anderer Umstände ein Hinderniß in den Weg legt, anfangs in unumschränkte Hochachtung, bald aber in Liebe ausartet.
Liebe entsteht daher: durch die bestmöglichste Uebereinstimmung einer Person verschiedenen Geschlechts mit meinem Ideal. Liebe die Bestand haben soll, muß daher immer mit Hochachtung anfangen, oder mit anderen Worten, ich muß eher eine Uebereinstimmung der HauptZüge des Charakters der Person, [/] mit meinem Ideal haben, als Neigung zum Geschlecht dazu tritt, denn sonst bestimmt mich Sinnlichkeit dazu, u. dann hört die Liebe durch Befriedigung derselben auf. So wie VernunftErkenntniß blos durch ErfahrungsErkenntniß entsteht, so ist wahre Liebe anfangs intellectuell, u. wird nachher, durch das Einmischen der GeschlechtsNeigung, sinnlich. So wie die HauptZüge meines Ideals stets HauptZüge meines Charakters sind, so wird immer, die mit meinem Ideal harmonirende Person, ähnliche Eigenschaften in ihrem Ideal also auch in ihrem Charakter haben, u. so wird bald wechselseitige Liebe entstehn. Der Beweiß für diesen Satz ist klar, denn er enthält blos den mathematischen Grundsatz:
Wenn a = b.
b = c.
c = d.
so ist d = a.
Der gewöhnliche Satz, [Liebe dauert] [/] nicht lange, wenn sie nicht durch Gegenliebe conservirt wird, ist hier ebenfalls anwendbar, dieses heißt: ich schloß von einigen Handlungen der andern Person auf HauptZüge ihres Charakters, die mit meinem Ideal harmoniren, u. habe mich hierinn geirrt.
Sollte es aber nicht besser seyn, ohne vorhergehende Inclination das Band der Ehe zu knüpfen, da man alsdann ganz kalt, die guten u. bösen Seiten seines künftigen Gatten forschen kann? Der junge Mann das junge Mädchen, deren Einbildungskraft noch in voller Kraft würkt, da Urtheilskraft noch nicht ihre gehörige Reife hat, deren Nerven noch sehr reizend sind, deren feuriges Temperament noch nicht ganz durch Vernunft beherrscht wird, diese lernen sich öfters einander kennen, finden einige Uebereinstimmung in ihren Idealen, sogleich mahlt die stets [/] thätige Einbildungskraft, die bei der andern Person nur gering gefundenen, mit meinem Ideal harmonirende, Eigenschaften ihres Charakters aus, Geschlechts Neigung tritt dazu, u. wir übersehen Fehler, oder Eigenschaften des Charakters der geliebten Person, die vielleicht jetzt nicht geradezu dem Ideale widersprechen, aber bei erreichtem Zweke leicht in unserem Ideal ganz widersprechende HauptZüge ausarthen können; wir schließen das ohne Schwierigkeiten nicht unauflößliche Band der Ehe, u. müßen so die Folgen unserer Uebereilung unsere LebensZeit hindurch empfinden. – Der Mann oder das Mädchen hingegen, die sich ohne vorhergehende leidenschaftl. Liebe einander wählen, können mit kaltem Blute die guten u. bösen Eigenschaften des andern Gegenstands prüfen, die eine gegen die andere wohl abwägen, sie mit den ihrigen in Parallel stellen, u. finden sie dann eine Uebereinstimmung mit ihrem Ideal, dann findet sich diese wahre Liebe, wehrend der Ehe, indem alsdenn nach geschehener Wahl erst Neigung zum Geschlecht dazwischen tritt. [/]
Nach diesen Prämissen würde es daher schwer seyn das Urtheil zu fällen, allein meiner Meinung nach wird Inclination doch die Oberhand behalten, denn kalte Beobachtung u. Beurtheilung einer Person können der Inclination u. diese noch vor der Ehe vorgehn. Aus vielen andern Ursachen müßen wir stets das Glük erkennen, einer solchen Inclination fähig zu seyn. – Sie macht uns für die menschliche Gesellschaft tauglicher, indem sie wie Rousseau sagt; das beste u. kürzeste Mittel ist, einen jungen Menschen auszubilden. – Gegenseitige Liebe flößt uns Muth zu unsern Geschäften ein, indem wir alsdenn unserem Ziele als Menschen mit grösseren Schritten zu eilen, um desto eher die Erfüllung unserer Wünsche zu genüssen. Sie verschafft uns die glüklichsten u. unstreittig frohesten Augenblike unseres Lebens, u. macht, daß wir mit Standhaftigkeit, die 10mahl häufigern Gegenstüke von ihnen ertragen. Haben wir, durch unsere ausgebildete Geistesfähigkeit, ein großes Ideal, so hält sie uns von Lastern u. andern Zeittödtenden Beschäftigungen ab, indem wir blos für den geliebten Gegenstand, u. durch ihn, für uns selbst leben.
Metadata Concerning Header
  • Date: August 1792
  • Sender: Theodor von Schön
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Tapiau ·
  • Place of Destination: Krockow ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 327‒329.
Manuscript
  • Provider: Staatliches Archivlager Göttingen
Language
  • German

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