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Johann Gottlieb Fichte to Friedrich David Eisenstuk

Krockow bei Neustadt in Westpreußen
den 27. September 1792.
Ew. Wohlgeboren bezeugen mir ein Zutrauen, das mir sehr schmeichelhaft seyn muß. ec. – Die Lösung Ihrer Aufgabe ist allerdings dringendes Bedürfniß der Menschheit, und sie ist bis jetzt noch so wenig gelöst, daß sie sogar in ihrer ganzen Ausdehnung noch nicht gefaßt ist. Ich habe ihre Idee oftmals mit Feuer gefaßt, und mit mehreren meiner Freunde mich darüber besprochen; sie selbst auszuführen hat mir aber nie in den Sinn kommen können, da eine anderweitige Richtung meiner Gemüthskräfte und meine Lage mich verhindern, die dazu nöthigen Ungeheuern Kenntnisse mir zu erwerben. Daß sie bis jetzt nicht ausgeführt worden, davon liegt die Ursache theils in dem bisherigen Zustande der Wissenschaften; – wir hatten keine Philosophie; – theils in der Eigenheit der menschlichen Natur, daß der Vielwisser selten ein philosophischer Kopf, und der philosophische Kopf selten ein Vielwisser ist, und daß zur Lösung dieser Aufgabe Beides gehört. Sie sind, Ihrer Erzählung nach, der Mann, der dies Wagestück bestehen kann; – der Kranz, den [Sie] erringen können, ist unverwelklich, wenn Sie Muth und Ausdauer genug haben, ihn zu erkämpfen. Sie werden dann für die Theologie unendlich mehr leisten, als Kant für die Philosophie leisten konnte. Erst jetzt ist durch Einen Mann ein Unternehmen auszuführen, dem vorher kaum eine Gesellschaft gewachsen war; denn es ist für Philosophie durch die Kritik, für die Theologie durch Kirchenhistoriker, Exegeten, Hermeneuten sehr gut vorgearbeitet. [/]
Die Kritik der christlichen Religion hat zwei Theile, einen historischen, welcher untersucht: was lehrt das Christenthum, und einen philosophischen, welcher prüft: hat es dabei Recht? – Der erste untersucht: 1) die Urkunden des Christenthums; und hier ist der erste Stein des Anstoßes. Denn, meiner Meinung nach, ist für diese Untersuchung besonders durch Semmler, neuerlich durch M. Weber in Tübingen gut vorgearbeitet; aber sie ist bei Weitem noch nicht in’s Reine gebracht. Man vergesse dabei nicht, daß es nicht um die Authenticität eines Profanschriftstellers zu thun ist, wo das menschliche Interesse weniger Spielraum hat, sondern um die heiligen Schriftsteller, für deren Unterschiebung und Verfälschung die Leidenschaft thätiger seyn mußte; daß die Untersuchung nicht durch eine Reihe aufgeklärter Männer, sondern durch den verdorbenen Pöbel eines Zeitalters läuft, das von mancherlei Aberglauben nicht frei war. Man sey vor allen Dingen auf seiner Hut, daß man durch jenes Interesse nicht selbst bestochen werde, sondern schärfe seine Kritik um desto mehr. Daß vom Resultate dieser Untersuchungen die historische Glaubwürdigkeit dieser Schriftsteller, – und dies um desto mehr, da sie weniger Fakta als Lehrsätze erzählen, die durch den Mißverstand des Erzählers nur zu leicht verfälscht werden: – daß ferner der richtige Wortverstand derselben davon abhänge, leuchtet ein. Hierzu gehört Zuhauseseyn in der Kirchengeschichte und scharfer kritischer Blick. 2) Was haben denn nun diese Männer, mit denen wir so bekannt sind, wie wir es nur können, eigentlich gesagt? – Und für diese freie Beantwortung – scheine es so paradox als es wolle, – scheint mir, ohnerachtet des Schwalls unserer exegetischen Vorarbeiten, noch weit weniger gethan zu seyn, als für die erste, weil sich nur aus der muthmaßlich herrschenden Ideenreihe eines dunkeln Schriftstellers, – dies sind die heiligen alle, – ungefähr schließen läßt, was er habe sagen wollen. Wir Alle mehr oder weniger finden in der Bibel, was wir hineintragen. Ich möchte das Schauspiel eines [/] philosophischen und dabei gelehrten Kopfes haben, dem man, nach den gehörigen historischen und Sprachstudien, das N. T. vorlegte, ohne daß er vorher ein Wort von christlicher Religion gehört hätte. Mein Kritiker des Christenthums muß sich, so viel es irgend möglich ist, in die Lage dieses Kopfs versetzen. Außer der Schwierigkeit der Sprache, die weder hebräisch noch griechisch, weder philosophisch noch populär, sondern eine Mixtur aus diesem Allen ist, entsteht hier noch die Frage: Haben die heil. Schriftsteller, die durch Grübeln wenigstens ihren Kopf nicht verdorben hatten, sich bei so vielen ihrer Ausdrücke auch wirklich etwas scharf Bestimmtes gedacht, – und ist mithin die Mühe nicht vergeblich, aus ihnen insgesammt etwas Bestimmtes und in sich Uebereinstimmendes herauszwingen zu wollen? – Warum haben wir noch keine Uebersetzung, die bestimmt das Mittel hielte zwischen der Lutherischen Wörtlichkeit und der Bahrdt’schen Accommodation, die den Sinn der biblischen Schriften gerade so wiedergäbe, wie sie ein gemeiner Mann unseres Zeitalters, mit ungefähr eben dem Grade der Cultur, wie jene, mit allen den Unbestimmtheiten, Inkonsequenzen, Widersprüchen u. s. w. würde niedergeschrieben haben? Mein Kritiker liefere nicht nur diese Uebersetzung, sondern auch eine systematische Uebersicht aller Theoreme, wobei er genau bestimme, was festgesetzt sey, in wie weit es festgesetzt sey, – was unentschieden geblieben, wo einzelne Schriftstellen sich widersprechen. – Dieser erste Theil kann, als historisch, nicht auf völlige Evidenz Anspruch machen; aber so viel läßt sich mit Recht von ihm fordern, daß er bestimmt angebe, bis auf welchen Grad der Wahrscheinlichkeit eine gewisse Annahme gehe, und welche Data noch erforderlich seyn würden, um sie zur historischen Gewißheit zu erheben. Da aber kein Wahrscheinlichkeitsgrund seinen allgemeinbestimmten Werth hat, sondern ihn jedesmal von der subjektiven Denkweise eines Jeden erhält, so würden auch dadurch noch nicht alle Streitigkeiten auf dem Gebiete der positiven Theologie vernichtet [/] seyn, aber die eigentlichen Streitfragen würden doch dadurch bestimmter und vor Mißverständnissen gesicherter. – – Noch habe ich anzumerken vergessen, daß in der Untersuchung vom Canon von einer Inspiration der heiligen Schriftsteller die Rede nicht seyn kann, weil nach kritischen Grundsätzen der Werth des Gesagten gar nicht aus dem Werthe der Personen, sondern der Werth der Person erst aus dem Werthe des Gesagten geschlossen werden darf.
Der Grundriß des zweiten, philosophischen Theils ist durch die Kritik des Offenbarungsbegriffs an sich vorgezeichnet; – ich meine damit nicht die meinige, sondern die in der Idee. Allenfalls glaube ich noch hinzusetzen zu können, daß bei nicht ganz bestimmten Sätzen eine günstige Bestimmung nach der moralischen Religion Statt finden müsse, und daß der Christenthumskritiker gar wohl die juristiche Regel annehmen könne: quilibet (quodlibet theorema) praesumitur bonus, donec etc. – Haben Sie Stäudlin’s Ideen zur Kritik des Systems der christl. Religion, Göttingen 1791 gelesen? Sie wurden mir sehr angepriesen; meines Erachtens kann Ich sie Ihnen aber nur empfehlen, um daraus zu sehen, wie eine Christenthumskritik nicht geschrieben werden soll. Bei dem Manne ist schon so sehr viel ausgemacht, wovon Andere nichts wissen. Dabei fehlt es ihm an Methode.
Dies sind ungefähr meine Ideen über die vorgelegte Frage. Sie werden finden, daß Jeder, und daß Sie selbst sich ebenso gut rathen konnten. Nehmen Sie also das Gesagte mehr als einen Beweis meiner Achtung und Willfährigkeit, als für etwas Anderes auf. Daß ich Sie nur Ihnen communicire, und daß ich keinen weitern Gebrauch davon voraussetze, als den, der sich aus der Natur der Sache ergiebt, braucht unter guten Menschen nicht erinnert zu werden, u. s. w.
Metadata Concerning Header
  • Date: Donnerstag, 27. September 1792
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Friedrich David Eisenstuk
  • Place of Dispatch: Krockow ·
  • Place of Destination: Unbekannt ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 344‒346.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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