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Johann Gottlieb Fichte to Johanna Fichte

Tübingen, Mittwochs.
Diesen Augenblik erst, Theuerste, Freundinn meines Herzens, eine Stunde vor Abgang der Post, bin ich so glüklich, mich von den vielen Ehrenbezeugungen, die mir hier wiederfahren, u. die mir lästig sind, weil sie mich abhalten, mich im Geiste mit Dir zu beschäftigen, auf eine kurze Zeit loszureißen, u. zu diesem Papiere, das durch Deine Hände gehen wird, zu fliegen.
Wenn Du es erhältst, dann dauret es vielleicht nicht einmal 24. Stunden mehr, daß ich, glüklicher, seeliger, bey Dir bin, um mich nie wieder von Dir zu trennen. Ach was wird das für Eine Stunde – was werden das für Tage seyn, die darauf folgen! – Sei mir geseegnet, holde Beglükseeligerin meiner Tage, in deren Armen endlich der unstäte, herumschweifende Flüchtling Ruhe, u. Glükseeligkeit, u. völlige Befriedigung seines weiten vielfordernden Herzens finden wird! Es ist mir, besonders in dieser Stunde, sehr wunderbar um’s Herz. Womit habe ich das doch verdient, daß mir, nach so vielen Verirrungen, das gröste Glük zu [/] Theil wird, das einem Sterblichen werden kann, – eine zärtliche, gute, u. verständige Begleiterin auf dem Pfade des Lebens – vor so vielen andern zu Theile wird, die weit würdiger sind, als ich. – Allgerechter Regierer der menschl. Schiksaale; dankbar werfe ich mich in Deine Hände: mache mit mir was Du willst – denn ich glaube, Theurer Engel, daß alle Freuden auf dem Wege des Lebens nichts sind, als Stärkungen auf nachfolgende Mühen, u. Arbeiten. Ich habe das, was ich jezt aus seiner Hand empfangen soll, nicht verdient: das gestehe ich aus inniger SelbstErkenntniß. Für vergangene Arbeiten ist es nicht Belohnung; also für künftige. – Hälfte meiner Seele; wir wollen den unverbrüchlichen Bund der Tugend schließen, so bald wir uns wiedersehen; wir wollen einer des andern Stütze, u. Stab auf ihrem Wege seyn; wir wollen uns errinnern, u. ermahnen, wenn eines von uns sich vergißt – ach! ich bin als Gelehrter so vielen Versuchungen ausgesezt, und oft in einzelnen Augenbliken so sehr schwach – Denn ich muß es Dir [/] sagen: ich habe mir fest vorgenommen, ein rechtschafner Mann, im ganzen Sinne des Worts zu seyn; u. dazu werde ich Deiner Unterstützung oft nöthig haben. Wir werden darüber gewiße Punkte abreden. Ich weiß, daß Dein Herz die Tugend gewiß nicht weniger liebt, als das meinige: aber Dein Geist ist nüchterner, u. weniger stürmisch; Du wirst oft nöthig haben, Waßer in mein Feuer zu gießen. . –
Ich bin gestern von Stuttgard abgereis’t, u. bleibe hier bis morgen früh. Dann mache ich ein Stük meiner Reise zu Fuße, bis mich der Postwagen einholt; das wird in der Donnerstags Nacht geschehen. Den Sonnabend bin ich in Schafhausen: da find ich einen Brief von Dir; lese ihn höchstwarscheinlich ohngefähr in der nemlichen Zeit, da Du diesen meinigen liesest; finde darin die bestimmte Anzeige, wo ich Dich Sonntags treffe. Den Sonntag – doch weg alle Beschreibung! – Sonntag Abends seh’ ich auch unsern gemeinschaftlichen Vater, u. höre zuerst die Versicherung, daß er es seyn wolle, aus seinem Munde.
Und jezt lebe Wohl, bis auf den mündlichen Gruß.
Der Deine
Fichte.
Metadata Concerning Header
  • Date: Mittwoch, 12. Juni 1793
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Johanna Fichte
  • Place of Dispatch: Tübingen · ·
  • Place of Destination: Zürich · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 1: Briefe 1775‒1793. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1968, S. 416‒417.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: B 72
Language
  • German

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