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Johanna Fichte, Johann Gottlieb Fichte to Hartmann Rahn

[Johanna:] Bern – – Sonnab d: 26. Oct. 1793.
Theurer, ewig geliebter Vatter!
Mit rechter Sehnsucht eil ich zu diesem Papier, um mit Ihnen ein wenig zu schwazen; den[n] es mangelt meinem Herzen zu sehr, daß ich seit dem Dienstag nichts von Ihnen weiß; die glükliche Poost welche mir einen Brief von Ihnen bringen kann, kömmt erst morgen; und denn wieder am Donnerstag, wie sich mein Herz nach einem Brief, der mir die Herzerquikende Nachricht bringt, daß Sie Bester Sich wohl befinden, munter, und vergnügt sind, sehnt, kann ich Ihnen nicht beschreiben: Gott schenke mir bald diesen Brief, sonst fang ich an unruhig zu werden, und das leider sehr, sehr: und denn werd ich auch meinem Theuren Fichte plagen, das würd mir weh thun, sehr weh thun.
Am Mitwochen Mittag reisesten von den Theuren Arauern ab, kammen am Donnerstag Mittag in Bern an; diese Stadt gefällt beym ersten Anblik, durch Ihre schönen Häuser, und breiten Straßen sehr; den ersten Nachmittag giengen wir spazieren um die Gegend zu betrachten, welche uns auch sehr gefiel: Freytag morgen gieng Fichte zum Prof: Ith, legte den Brief ab, bekamm ihn aber nicht zu sehn, sondern Er ließ ihm sagen, daß er ihm diesen Morgen noch selber besuchen werde; nach 11: Uhr kamm er wirklich, und wir fanden in ihm einen sehr artigen gefälligen Mann, der sich drüber freute, [den] Mann kennen zu lernen, deßen Schriften ihm solche Achtung eingeflößt hatten; auch wußte er, daß [/] mein Theurer Fichte, der Verfaßer der Beyträge ist, welche hier mit vielem Beyfall gelesen werden. Es schien ihm sehr leid zu thun, daß er schon für den Abend versprochen habe, lud uns aber auf den folgenden Nachmittag ein, wo er uns mit der Hallerischen Famille, und meinen lieben Mann, mit den hiesigen Kantianern, von welchen es manche haben soll, Bekanntschaft verschaffen will; diesen Morgen giebt ihm Fichte den gegen Besuch: und wir haben das schönste Wetter.
Ich gieng mit meinen 3: Briefen, von des Lieben Herrn Wasers, am Freytag morgen und machte meine Besuche; die Ma: Bondeli nee Dach’s fand ich zu Hause, und wir erkannten einander gleich, waren herzlich gut mit einander. Mad: Stanz nee Bondeli sah ich nicht, beyde Damen besuchen uns diesen Morgen, [Madam] Jenner née Haller, ist eine Frau von 60: geht an Kruken, eine sehr liebenswürdige Naife, herzliche Frau, mit der man gleich herzlich sein kann, wir schwazten lange mit einander, sie bedaurte sehr, daß wegen ihrem schwächlichen Zustand, sie uns keine Freuden machen könnte, lud mich aber auf eine so freundschaftliche Art ein, sie wieder zu besuchen, (sie sey immer zu Hause) daß ichs gewis thun werde: Ihr Mann ließ heute den Lieben Fichte auf die 2: Uhr zu sich einladen. Nach Genf werden wir nicht gehn Theurer Vatter, denn man sagt uns hier, daß auch auf dem Wasser die Fahrt dort hin, nicht sicher ist, denn es werde oft auf die vorbeyfahrenden Schiffe gezogen, wir reisen allso über Niedau, gehn nach Neuffchatel, Basel, Solothurm, und denn wieder zu unserm Theuren ewig geliebten Vatter: Sie werden ja nicht böse, daß wir nicht nach Genf gehn. [/]
[Fichte:] Eben im Begrif auszugehen, kann ich mir’s doch nicht versagen ein paar Zeilen mit für Sie einzulegen, guter bester Vater. Da mein liebes Weibchen Ihnen ohne Zweifel alle unsre Begebenheiten melden wird, so bleibt mir wenig übrig. Das wird sie Ihnen vielleicht nicht schreiben, daß sie von einem großen Heimweh befallen ist. Wenn sie nur morgen ein paar Zeilgen von Ihnen erhält, so wird sie kräftigst getröstet seyn.
Auch das weiß ich nicht, ob sie es Ihnen schreiben wird, daß ich mich seelig, wie im Himmel fühle, da ich sie endlich ganz, ganz mein nennen kann.
Ungern reiße ich mich von diesem Papiere los; aber ich muß fort zu meinen Glaubensgenoßen in Kant.
[Johanna:] Wie lange wir in Bern bleiben, kann ich Ihnen nicht sagen, weil’s darauf ankömmt wie uns diese Abend Zusammenkunft gefällt, und was darauf folgt; dieser Brief muß um 3: Uhr vort, von hier aus schreib ich Ihnen gewis wieder, und reisen wir vor Mitwochen ab, wo erst wieder ein Brief nach Zürch gehn kann, so laß ich einen zurük. Man spricht hier viel französisch, auch weht hier lauter Aristocraten Luft, welche man so bey sich vorbey wehn läßt, auch P: Ith, welcher kein Aristocrat ist, sagt das sey das Beste, um hier gut vort zu kommen: Die Franzosen werden hier für eine solche abscheuliche Nation gehalten, daß man ihr nur keinen Namen zu geben weiß, um allen Abscheuh gegen sie auszudrüken; freylich kann kein vernünftiger Mensch viele ihrer Handlungen billigen, aber die guten Leute vergeßen nur, was diese Menschen nach und zu diesen Abscheuhlichkeiten brachte; und daß doch ursprünglich die Großen, schuld sind; doch wie dörfen Weiber, über so was schwazen sie sollen nur horchen, drum kein Wort mehr hier von. [/]
Zu Mittag eßen wir à table d’hôte, zu nacht auf unserm Zimmer, unter freundschaftlichen Gesprächen, in aller Stille bey einander: Die table d’hôte ist ziemlich besezt, oben an sizen immer ein paar alte Berner Herrn, die mit den Hüten auf dem Kopf, etwas über Jagd, und den Krieg, untereinander Murmlen, ihre Minen sind so unintereßant, daß wir nicht nachgefragt haben, wer sie seyen: im übrigen herscht ein ganz eigner, sehr unlieblicher Thon, an diesem Tisch; ein jeder ißt, ja ich möchte sagen frißt gierig hinein, ist ganz mit seinem theuren Maagen beschäftigt, bekümmert sich gar nicht ob sein Nachbahr, auch was habe, oder was haben wolle; ein allgemeines Gespräch von dem ist gar nicht die rede, denn wie könnte das der arme Maagen erlauben? wenn dieser in etwas befriedigt, so flistert man dann und wann mit seinem Nachbahr, (auch giebts einige die lesen) neue angekommne werden mit den Augen gemeßen, durchforscht, wer, und was sie wohl sein mögen, und dabey bleibts denn; ein jeder geht, wenn er will, eben so droken, so kalt, so unhöflich vom Tisch, als er dazu gekommen war: so sizt man da am Tisch unter Menschen, die eim weniger als nichts sind, auch nicht mehr werden können; und die durch ihre Selbstsucht, oft beleidigen; dies kamm mir anfangs sehr unangenehm vor, nun machsts mich oft zu lachen; dies deucht mir wirklich eine ausartung, von ungeniertem Wesen: weil immer am Tisch französisch geschwazt wird, so glaubt man unter lauter französischen Knöpfen zu sizen; kömmt je ein Fremder dem mans ansieht, er möchte wohl gerne artiger sein, so hatt er sich doch gleich in diesem herschenden Thon geschmiegt; und er sizt da, vor sein Geld, wie die andren. Ich habe viel viel ge[Fichte:]schwatzt, – denn jezt ergreife ich wieder die Feder, nachdem ich Besuch bei Prof. Ith gegeben, u. mein liebes Weib von den Damen Bondeli, u. Stanz [/] welchen gehabt. In dem erzählenden Ton, den sie angestimmt, kann ich mich denn nun einmal nicht finden: doch einiges! Um 2. Uhr bin ich zum Venner v. Jenner eingeladen; ein hiesiger Großer. Den Abend bringen wir bei Prof. Ith zu. Vorher gehen wir mit den Damen, die oben genennt sind, spazieren. Unsere weitere Reise Route ist noch garnicht etwa unabänderlich festgesezt. – Prof. Baggesen aus Coppenhagen werde ich vielleicht heute kennen lernen.
Sie sind doch gesund, u. vergnügt, guter Vater? Was gäbe ich nicht darum, um es sogleich auf der Stelle zu wißen; um zu wißen, daß Sie so vergnügt wären, wie ich z. B. – Ich kann Ihnen nicht genug sagen, wie mir die Veränderung der Luft bekommt! Ich thue den ganzen Tag nichts, als springen, u. mich freuen.
[Johanna:] Ich Theurster Vatter sage Ihnen izt Behüte Gott, und freue mich ganz unbeschreiblich auf Ihren morgenden Brief. Leben Sie wohl! Ihr[e] Sie herzlich liebende Johanna Fichte Rahn
Tausend tausend Grüße alle, Herr Steiner, Barbel nicht vergeßen, was macht auch meine Schwester, errinnert sich Barbel auch alles deßen worum ich sie bath?
à Monsieur
Monsieur Rahn
Directeur de la Douâne
à Zurich:
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 26. Oktober 1793
  • Sender: Johanna Fichte, Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Hartmann Rahn
  • Place of Dispatch: Bern · ·
  • Place of Destination: Zürich · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 5‒9.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: B 75
Language
  • German

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