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Johann Gottlieb Fichte to Ludwig Wilhelm Wloemer

Herrn Doktor Wloemer
Ich gestehe es Ihnen, Ihre zweite Zuschrift ehe ich die erstere beantwortet hatte, beschämte mich: aber hören Sie meine Entschuldigung, u. Sie werden mich dann wenigstens nicht mehr in dem Verdachte haben, daß die zwischen uns allerdings Stattfindende große Verschiedenheit unsrer Denkweisen mich abhalten könnte, Ihre Verdienste nach Würde zu schätzen, u. für Ihre gütige Gesinnungen Ihnen durch Achtung zu danken. – Ich machte mit meiner Frau eine Reise durch einige Schweizer Kantone, von der ich erst zu Ende voriges Monats zurükkam, u. Ihren Brief nebst noch einer Menge anderer fand. Urtheilen Sie wie viele nicht aufzuschiebende Arbeit sich gesammlet hatte, dazu kam, daß ich gleich darauf durch die Lectüre eines entschloßnen Skeptikers zu der hellen Ueberzeugung geführt wurde, daß die Philosophie vom Zustand einer Wißenschaft noch weit entfernt sey, u. genöthigt wurde mein eignes bisheriges System aufzugeben, u. auf ein haltbareres zu denken. Wie wenig bleibt mir Zeit übrig! – Und dann, theuerster Freund – gestehe ich Ihnen mit aller Offenheit, die beßer ist als Zurükhalten, oder zweideutige Aeußerungen, daß mir nach der Lesung [Ihrer] Beantwortungen wenig Hofnung übrig blieb, daß wir uns je verstehen würden. Um mich vor Ihnen zu rechtfertigen, nehme ich gleich die erste zum Beispiel. (Ich bezeichne Ihre Behauptungen mit +.
Materie
+ ist oder ist nicht.) Seyn im objectiven Sinne, wie Sie es sicher
nehmen: für ein Daseyn an sich u unabhän[g]ig
von der Vorstellung irgend einer Intelligenz.
ewig, oder + nicht ewig
Die Materie ist nicht ewig heißt, wenn es analysiert wird; es ging vor der Zeit, in der die Materie ist, eine Zeit vorher, in der sie nicht war. D. i. wieder bloß analytisch, die Materie ist einst entstanden, u. zwar aus Nichts. Denn Nichts ist die Negation einer jeden Realität. Finsterniß ist Nichts in Beziehung auf das Licht, u. Immaterialität ist Nichts in Beziehung auf Materie. Sie gewinnen also durch Ihr UniversalPrincip, das Sie vor der Materie existiren laßen, nichts mehr, als diejenigen, die bloß Gott vor ihr existiren laßen. Es mag vor der Materie nichts außer Gott, oder es mag ein immaterielles UniversalPrincip daseyn, so entsteht die Materie immer aus Nichts. Das war es, was ich – nicht sagen [–] aber durch den gemilderten Ausdruk heterogen Sie darauf führen wollte. Eine Beantwortung dieses Einwurfs muste zeigen, wie aus etwas immateriellen Materie werden konnte (welches ich für einen innern Widerspruch halte. Sie dagegen sagten S. 2. Z. 16 u. 17. Gott hat aus dem UniversalPrincip alles materielle geschaffen) etwas materielles läßt sich nur aus Materie erschaffen, mithin war die Materie da: das UniversalPrincip war die Materie: aus Gott ist Materie emanirt, Gott ist Materie – Tiefer unten Z. 3. sagen [Sie]: das UniversalPrincip ist immateriell. <welches> die Negation der Materie ist. Nun kann Ein u. eben daßelbe Ding nicht Realität, u. Negation zugleich seyn. Mithin müste es 2. UniversalPrincipe, ein immaterielles, u. ein materielles gegeben haben. – „Die Materialität ist eine Folge der Schöpfung” d. i.z die Schöpfung ist Ursache <wovon>, von der Existenz der Materie. Aber davon ist nicht die Rede, sondern davon: was ist denn der Stoff der Materie? hat sie einen Stoff oder nicht: hat sie einen so ist dieser Stoff selbst Materie u. also ist die Materie nicht erschaffen, welches den Voraussetzungen widerspricht: hat sie keinen Stoff, so ist sie aus Nichts geschaffen.
Mag doch vor Existenz der Materie etwas außer G. dagewesen seyn: wenn dieses Etwas nicht Materie war, so bleibt <immer> die Entstehung der Materie aus Nichts. Analytisch.)
Es ging vor der Zeit pp eine Zeit vorher, in der sie nicht war. Das geben Sie zu: u. sagen: aber ein göttlicher Hauch, Emanation war in dieser Zeit. – Aus diesem Hauche hat G. die Materie erschaffen, d. i. sie hat sich in ihn ver[wan]delt. Nun ist Nichts die Negation jeder Realität, in Beziehung auf sie Nichts. Immaterialität – Nicht-Materie ist demnach Nichts in Beziehung auf Materie. Die Materie ist demnach aus Nichts erschaffen. So schloß ich, u. [Sie] haben in Ihrer Antwort das bestätiget. Gott hat Z. 16. u. 17. aus dem nach Zeile 3. v. u. immateriellen UniversalPrincip. Ihr Beispiel wende ich gegen Sie. – Kurz der Schöpfung der Materie aus Nichts entgeht man meiner Meinung nach nicht, wenn man nicht entweder die Materie als ewig annimmt, oder ihre Existenz an sich ganz leugnet; wenn man sich nicht lieber mit dem Kritiker in seine unverschuldete Unwißenheit über diese Frage zurükziehen will. – [/]
Ich glaube Sie hören gerne den Rath des Freundes: Sie haben mich dazu aufgefordert, u. ich will aufrichtig seyn, auf die Gefahr Sie zu beleidigen. Ihre Untersuchungen sind für die Geschichte des menschl. Geistes höchst wichtig, u ich für meine Person versichere Ihnen, daß ich das lebhafteste Intereße dafür habe, u. für die Wißenschaft wünsche, daß Sie dieselben soweit fortsetzen u. ausdehnen, soweit es möglich ist. Aber für die Wahrheit an sich (nicht die historische, sondern die philosophische,) kann nach meiner innigen Ueberzeugung dabei nichts herauskommen; alle alte <Völker> gingen auf objective Behauptungen aus, u. Sie, Th. Fr. haben sich durch dieselben gleichfals verleiten laßen. Das Studium Kants, oder wenn der Sie noch nicht überzeugt, eine künftige ElementarPhilosophie die die Evidenz der Geometrie haben, u. welche der Lage der Philosophie nach, nicht länger mehr säumen kann, wird Sie gewiß überzeugen, daß Sie in dieser Rüksicht nicht auf dem rechten Wege sind, u. daß objective Erkenntniße ganz außer der Sphäre des menschl. Geistes liegen.
Verzeihen Sie meiner Redlichkeit, was ein eigner Irrthum vielleicht fehlt; fahren Sie fort mir Ihre Entdekungen mitzutheilen, wenn Sie mit meinem bloßen Intereße daran sich begnügen wollen, da ich in historischer Rüksicht sie nicht beurtheilen, in philosophischer aber nicht billigen kann; leben Sie recht glüklich u. bleiben der Freund.
Metadata Concerning Header
  • Date: November 1793
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Ludwig Wilhelm Wloemer
  • Place of Dispatch: Zürich · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 14‒17.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: J. G. Fichte Nachlass I, 19
Language
  • German

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