Single collated printed full text without registry labelling not including a registry

Johann Gottlieb Fichte to Johann Friedrich Flatt

An Flatt.
Ohnerachtet ich die Beantwortung Ihres lezten belehrenden Schreibens auch heute, u. wer weiß wie lange noch aufschieben muß, so kann ich doch das nicht länger aufschieben, Sie zu versichern, daß ich das Glük einen Theil Ihres Wohlwollens, u vielleicht Ihrer Freundschaft erlangt zu haben, nicht gering schätzen, u. mich deßelben durch Vernachläßigung der Pflichten, die mir daßelbe auflegt, nicht unwürdig machen will.
Ich habe einen <Theil> des Herbst unter mancherlei Zerstreuungen zubringen müßen, u. daher wenig Zeit übrig gehabt: daher thue ich erst jezt, was ich freilich eher hätte thun sollen. – Auf Ihr Schreiben hätte ich nicht viel mehr thun können, als mich wiederholen, u. höchstens sagen, was Sie in der Rec. der Creuzerschen Skeptischen Untersuchungen über die Freiheit in der A. L. Z. werden gelesen haben. – Aber ich fühle, daß ich der vortheilhaften Meinung, die Sie von mir haben, als könnte ich auf dem Wege des Selbstdenkens mit Ihnen Schritt halten, etwas anders schuldig bin: u. ich will diese Schuld bezahlen <bitte> aber <darüber um> Aufschub.
Aenesidemus, den ich unter die merkwürdigen Produkte unsers Jahrzehends zähle, hat mich von dem überzeugt, was ich vorher wohl schon ahndete daß selbst nach Kants, u. Reinholds Arbeiten die Philosophie noch nicht im Zustande einer Wißenschaft ist[,] hat mein eignes System in seinen Grundfesten erschüttert, u. hat mich, da sich’s unter freiem Himmel nicht gut wohnt, genöthigt von neuem aufzubauen. Ich habe mich überzeugt, daß nur durch Entwikelung aus einem einzigen Grundsatze Philosophie Wißenschaft werden kann, daß sie aber dann eine Evidenz erhalten muß, wie die Geometrie, daß es einen solchen Grundsaz giebt, daß er aber als solcher noch nicht aufgestellt ist: ich glaube ihn gefunden zu haben, u. habe ihn, soweit ich mit meiner Untersuchung bis jezt vorgerükt bin, bewährt gefunden. Ich hoffe in nicht gar langer Zeit bis zu der Untersuchung über die Freiheit vorgerükt zu seyn; u. es wird mich freuen, die Resultate derselben Ihrer Beurtheilung vorzulegen
Solche Untersuchungen erregen theils das lebhafteste Staunen über das wunderbare System des menschl. Geistes, wo alles durch den immer gleichen Mechanismus, durch die einfachste Verkettung der Glieder auf Eins, u. Eins auf alles wirkt: – über die edelste Simplicität in dem künstlichsten Werke. – theils die wundervollste Verehrung für den sonderbaren einzigen Mann, den nach abgelaufnen Jahrtausenden unser Zeitalter hervorbringen muste – Kant. – Kant hat nach meiner Ueberzeugung das System nicht dargestellt; aber er hat es in Besiz, u. es wäre eine Aufgabe, ob er es mit deutlichem Bewußtseyn im Besiz hat; ob er einen Genius hat, der ihm die Wahrheit sagt, ohne ihm die Gründe derselben mitzutheilen, oder ob er seinem Zeitalter das Verdienst des Selbstforschens überlaßen, u mit dem bescheidenen Verdienst den Weg gewiesen zu haben, [sich] begnügen wollte.
Verzeihen Ew. meinen <leeren> Brief, u. erhalten Sie Ihr gütiges Wohlwollen
Ihrem
Metadata Concerning Header
  • Date: November oder Dezember 1793
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Johann Friedrich Flatt
  • Place of Dispatch: Zürich · ·
  • Place of Destination: Tübingen · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 17‒18.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: J. G. Fichte Nachlass I, 19
Language
  • German

Weitere Infos ·