Single collated printed full text without registry labelling not including a registry

Johann Gottlieb Fichte to Heinrich Stephani

Theurer Freund!
Ihre Briefe machten uns Allen die größte Freude; unser guter Vater und mein Weib hatten nämlich nach Alten= und Weiberart schon wer weiß welche Besorgnisse Ihretwegen; ich, der ich muthiger bin, dachte, daß Sie sich’s [/] recht wohl seyn ließen, und daß Sie zu Ihrer Zeit uns wohl schreiben würden. Diese Zeit ist nun gekommen, und wir danken Ihnen herzlich dafür.
So viel Interessantes, wie Sie mir schreiben, kann ich Ihnen nicht mittheilen. Daß ich seit einigen Monaten verheirathet bin, und mit meiner Frau eine kleine Reise gemacht habe, schreibt sie dem Herrn Grafen. – Die Zürcher haben das Geheimniß gefunden, mir so herzlich fatal zu werden, daß ich oft in 4 bis 5 Wochen Niemand sehe als meine Frau und unsern guten Vater, und daß ich seit Ihrer Abreise nicht zweimal in Gesellschaft gekommen bin. Die wüthende Parteilichkeit zwischen Aristokraten und Demokraten dauert fort: man sagt öffentlich, daß wir bei Ihnen auf Ott’s Landgute einen Jacobiner=Clubb gehalten hätten, u. s. w. u. s. w. Hätte ich nicht ernsthaftere Sachen zu thun, so könnte es wohl kommen, daß ich diesen neuen Abderiten ein Liedchen sänge. Aber das einzige ihrer Würdige ist, weder im Guten noch im Bösen ihrer zu gedenken. – Seyn Sie übrigens muthig; es wird in Deutschland so nicht bleiben; ich habe neulich ein Paar nur noch nicht ganz aufgedeckte Entdeckungen gemacht. Es ist Same des Guten da; er keimt, er wird zu seiner Zeit schon hervorbrechen. Was wir über dessen Realisirung so oft speculirten, ist zum Theil schon realisirt. Bestimmtes weiß ich noch nichts.
Das Merkwürdigste, was ich weiß, ist aus meiner Studirstube. Nach dem gütigen Antheil, den Sie an meinem wissenschaftlichen Treiben nehmen, verschmähen Sie es vielleicht nicht. Haben Sie den Aenesidemus gelesen? Er hat mich eine geraume Zeit verwirrt, Reinhold bei mir gestürzt, Kant mir verdächtig gemacht, und mein ganzes System von Grund aus umgestürzt. Unter freiem Himmel wohnen geht nicht! Es half also Nichts; es mußte wieder angebaut werden. Das thue ich nun, seit ungefähr 6 Wochen, treulich. Freuen Sie sich mit mir der Aernte: ich habe ein neues Fundament entdeckt, aus welchem die gesammte [/] Philosophie sich sehr leicht entwickeln läßt. – Kant hat überhaupt die richtige Philosophie; aber nur in ihren Resultaten, nicht nach ihren Gründen. Dieser einzige Denker wird mir immer wunderbarer; ich glaube, er hat einen Genius, der ihm die Wahrheit offenbart, ohne ihm die Gründe derselben zu zeigen! Kurz, wir werden, wie ich glaube, in ein Paar Jahren eine Philosophie haben, die es der Geometrie an Evidenz gleich thut. Was meinen Sie, daß daraus für die Menschheit folgen werde? Wir wollen es uns nicht verhehlen: der Zustand der Philosophie ist noch immer traurig; die neuern Streitigkeiten über die Freiheit, die Mißverständnisse der kritischen Philosophen unter einander beweisen es nur zu sehr. – Von dem neuen Standpunkte, den ich mir verschafft habe, kommen Einem die neuern Streitigkeiten über die Freiheit sehr komisch vor, erscheint es Einem drollig, wenn Reinhold die Vorstellung zum Generischen desjenigen machen will, was in der menschlichen Seele vorgeht. Wer das thut, kann nichts von Freiheit, vom praktischen Imperativ wissen, wenn er consequent ist; er muß empirischer Fatalist werden! – Daß Sie meine Rede jetzt günstiger beurtheilen, freut mich; ich gestehe, daß sie die liebste meiner Schriften ist. Mein Beitrag hat ziemliches Aufsehen gemacht, und leider werde ich, wie man mir schreibt, ziemlich allgemein für den Verfasser gehalten. Reinhold, höre ich, hat es bekannt gemacht. Der Druck des zweiten Theils ist zur Messe nicht fertig geworden, er wird es aber jetzt seyn. – Ihr Katechismus wird nächstens gleichfalls erscheinen, an irgend einem Ende der Welt, schreibt mir der Verleger, der sehr in Angst ist. Meine beiden Schriften sind in Berlin verboten. Ich habe sehr Lust, in meinen Erholungsstunden den Berlinern einen Bissen zu geben, den sie mir nicht verbieten sollen. – Ich schrieb Ihnen Etwas von Fürstenleben! – Ich erhielt [/] nämlich den Vorschlag, als Erzieher zu einem Prinzen von Meklenburg=Strelitz zu kommen. Ich machte unannehmliche Bedingungen, und es zerschlug sich. Ich wünsche jetzt Nichts, als Muße, meinen Plan auszuführen; dann – mache das Geschick aus mir, was es will!
Metadata Concerning Header
  • Date: Mitte Dezember 1793
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Heinrich Stephani
  • Place of Dispatch: Zürich · ·
  • Place of Destination: Unbekannt ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 27‒29.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

Weitere Infos ·