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Karl Leonhard Reinhold to Johann Gottlieb Fichte

Ein heftiger Anfall einer nun über anderthalb Jahr alten Krankheit hat mich seit mehreren Wochen um jeden freien Gebrauch der Zeit, die ich meinen täglichen Geschäften abgewinnen konnte, und damit auch bis jetzt um das Vergnügen gebracht, Ihren schriftlichen Besuch, der mich äußerst angenehm überrascht hat, zu erwiedern. Ich soll also Baggesen, meinem, und wie ich aus seinem letzten Briefe sehe, auch Ihrem Baggesen, dem ich so viele der reinsten und wohlthätigsten Freuden meines Lebens verdanke, auch Ihre nähere Bekanntschaft, und, wie ich mit Zuversicht hoffe, Ihre Freundschaft zu danken haben! Je öfter ich Ihre Beiträge durchlese und durchdenke, desto inniger werde ich überzeugt, daß ich Baggesen diesen Dienst schwerlich je durch einen gleichen vergelten könne. Außer der Kritik der praktischen Vernunft habe ich diese Vernunft in ihrem Einflusse auf Denkart, oder vielmehr durch denselben nirgendwo so lebendig, so einleuchtend, so durchgängig dargestellt gefunden als in diesen Beiträgen, die eines meiner wenigen von mir lebenslang unzertrennlichen [Lieblingsbücher] geworden sind.
Ich habe lange vor Ihrem vertraulichen Geständnisse keinen Augenblick gezweifelt, daß der Verfasser dieser Beiträge und der Verfasser der Kritik der Offenbarung eine und dieselbe Person sind. Nicht weil ich dem in Jena wenigstens allgemein verbreiteten Gerüchte, das mir diesen Verfasser, bevor ich das Buch gelesen hatte, nannte, Glauben beimaß: sondern weil ich das Eigenthümliche und Individuelle der Denkart, und selbst in manchen Stellen auch [/] des Ausdrucks der von mir sorgfältig studirten Kritik der Offenbarung schon in der Vorrede unverkennbar gefunden zu haben glaubte, den Unterschied des Styls oder vielmehr der Diktion aber nur aus der Verschiedenheit des Themas hinlänglich erklären konnte.
Wieland, dem ich mein Exemplar des ersten Theils (leider habe ich den zweiten bisher nicht auftreiben können) verdanke, sprach zu wiederholten Malen mit Begeisterung davon. Er sagt: die herrschenden Vorurtheile, die Sie in dieser Schrift angreifen, wären nicht etwa zusammengehauen, zerstückt, zerfetzt, sondern mit der Wurzel ausgerottet, und er bedauerte nur, daß er und seines Gleichen, wie er sich ausdrückte, von der reinen Form des Ichs sich keinen Begriff machen, sondern nur ahnen könnte, was damit gemeint sey.
Ich meines Orts bin mit mir selbst nicht einig, ob ich‘s wünschen oder nicht wünschen soll, daß manche Stelle, die nur den Kennern der kritischen Philosophie verständlich seyn kann, weggeblieben wäre.
Es ist gut, daß das Büchlein nicht in zu viele Hände komme, weil es, mißverstanden, eben so ungemein viel Böses als wohlverstanden Gutes bewirken muß.
Mit dem Ton, in welchem Sie mit Rehberg sprechen, bin ich so sehr zufrieden, daß ich mich seitdem vor mir selbst wegen des Tones schäme, in welchem ich in einem Aufsatz im deutschen Merkur im April 1793 über die deutschen Beurtheilungen der französischen Revolution mit diesem gewiß schädlichen Schriftsteller gesprochen habe, und der mich nun als der Ton eines unzeitigen und erkünstelten Moderantismus anekelt. Die Note hingegen, die eine Allusion auf den Sekretair enthält, wünsche ich mit voller Ueberzeugung aus dem Buche hinweg.
Auch in Ihren lehrreichen Recensionen in der A.L.Z. habe ich Sie ausgefunden, ohne daß mir die Redakteur auch nur einen Wink dazu gegeben hätten. [/]
Ich wünschte indessen, daß Ihr Tadel meiner Behauptungen über die Freiheit nicht der Anzeige des zweiten Theils der Briefe zuvorgekommen wäre, in welchem ich mir durch den Versuch, den logischen Begriff des Willens, an dem es bis jetzt allen, auch der kritischen Philosophie gefehlt hat, aufzustellen, einigen Nutzen gestiftet zu haben, geschmeichelt habe. Mein bisheriges Schicksal in der A.L.Z. war, daß noch kein einziger der von mir aufgestellten eigenthümlichen Begriffe in diesem Journale angezeigt oder angekündigt, desto mehrere aber gemißdeutet worden sind. Ich kann dieses nicht von Ihren mich betreffenden Aeußerungen behaupten. Aber da meine Absicht in dem 2. Bande der Briefe nur war, lediglich den Begriff von Gesetz und Freiheit des Willens zu entwickeln, so habe ich absichtlich mit gutem Vorbedacht von der Frage über die Art, Freiheit mit Naturnothwendigkeit zusammenzudenken, die mir schon von Kant beantwortet schien, und meinem Zwecke ganz fremde war, geschwiegen. – Nur die Möglichkeit der Freiheit halte ich mit Kant für ein Postulat, oder eigentlicher für einen Glaubens=Artikel der praktischen Vernunft, nämlich in wiefern dieselbe unbegreiflich ist und bleiben muß. Aber die Wirklichkeit der Freiheit ist mir wie die Wirklichkeit des Sittengesetzes, das ich nur als Gesetz der Freiheit denken kann, ein Gegenstand des Wissens. – Das Sittengesetz ist mir nur denkbar, in wiefern mir‘s als Gesetz für diejenigen Befriedigungen des Begehrens ist, die von meiner Freiheit, als einem von praktischer Vernunft sowohl als vom Begehren unabhängigen Grundvermögen abhängen. – Doch muß ich diese Sache bei nächster Gelegenheit noch genauer durchprüfen.
Sie werden mich durch die Fortsetzung unsers Briefwechsels unbeschreiblich glücklich machen. Ich umarme Sie im Geiste mit der überlegtesten und gefühltesten Verehrung und herzlichsten Liebe
Ihr
ganz eigener
Reinhold.
Jena den 12. Januar 1794.
N. S. Baggesen ist, wie ich aus einem aus Wien heut angelangten Briefe ersehe, daselbst wohlbehalten angelangt. – Er ist voll von Ihnen.
Metadata Concerning Header
  • Date: Sonntag, 12. Januar 1794
  • Sender: Karl Leonhard Reinhold
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Zürich · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 35‒37.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

Weitere Infos ·