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Johann Gottlieb Fichte to Franz Volkmar Reinhard

Zürich den 15. Jänner 1794.
Mein letzter Brief an Ew. Hochwürden und Magnificenz wurde, wenn ich mich desselben noch recht erinnere, in einer Spannung geschrieben, welche durch Reisen, mannigfaltige Empfindungen und angestrengte Arbeiten nothwendig hatte entstehen müssen. Der reifere und kältere Menschenkenner erblickte in ihm gewiß nichts weniger, als einen Mangel an Achtung von Seiten des jungen Mannes. Jener Brief blieb also sicher nicht darum unbeantwortet, weil der Schreiber desselben durch ihn Dero Wohlwollen verloren hatte, sondern vielleicht darum, weil Sie mir stillschweigend die Erlaubniß geben wollten, Ihnen das Resultat der erwähnten Untersuchung überschreiben zu dürfen. – Ich handle in diesem Glauben.
Aenesidemus hat meine Ueberzeugung, daß die Philosophie in ihrem gegenwärtigen Zustande gar noch nicht Wissenschaft sey, vollendet; die andere aber, daß sie wirklich Wissenschaft werden könne, und in Kurzem es werden müsse, nur noch verstärkt. Ich habe eine Recension desselben in die A.L.Z. abgesandt, welche ich Sie zu lesen und mir Ihre Meinung über die darin gegebenen Winke gütigst mitzutheilen bitte. Sie deutet, so gut es in den engen Gränzen einer Recension möglich ist, auf die neuen Gesichtspunkte, aus denen ich die Sache jetzt ansehe. So lange man den Gedanken von einem Zusammenhange unserer Erkenntniß mit einem Dinge an sich, das, von ihr gänzlich unabhängig, Realität haben soll, übrig läßt, wird der Skeptiker immer gewonnenes Spiel haben. Es ist also einer der ersten Zwecke der Philosophie, die Nichtigkeit eines solchen Gedankens recht handgreiflich darzuthun. Wird sie dadurch erst auf eine mittelbare Kenntniß des Nicht=Ich vermittelst des Unmittelbaren des Ich beschränkt; so ist es schon vorläufig mehr als wahrscheinlich, daß – da unser Geist, [/] wie weit wir ihn beobachten, sich nach Regeln richtet, – er sich wohl überhaupt nach Regeln richten möchte, und daß das System dieser Regeln, da ein solches doch einmal da seyn muß, sich auch auf eine für alle Zeiten gültige Art werde ausführen lassen. Entweder es muß möglich seyn, eine Philosophie als allgemeingültige Wissenschaft zu begründen, oder nicht. Ist es nicht möglich, so muß sich diese Unmöglichkeit darthun lassen, wie sich z. B. die Unmöglichkeit einer völlig vollendeten empirischen Naturforschung wohl darthun läßt: ist es aber möglich, so muß es sich auch wirklich machen lassen. Diese Möglichkeit darum zu leugnen, weil es bis jetzt noch nicht gelungen ist, scheint mir gerade so, als ob vor Erfindung der Geometrie als Wissenschaft, wo wahrscheinlich ein problematisches System immer das andere gestürzt hat, wie es bisher mit der Philosophie ergangen ist, Jemand hätte sagen wollen: die Geometrie wird wohl nie Wissenschaft werden, weil sie es bisher noch nicht geworden ist. Sagen, daß man doch immer nicht wissen könne, ob nicht etwa eine künftige Entdeckung unser System umstoßen werde, scheint mir gerade so, als ob [einer] dem Geometer, der ihm jetzt demonstrirt hätte, die Summe der 3 Winkel in einem Dreiecke sey gleich zweien rechten, sagen wollte: das könne man nun so recht eigentlich nicht wissen, denn es dürften noch etwa in der Zukunft Triangel entdeckt werden, deren Winkel 170° oder 190° hätten. – Aber die Philosophie kann nicht, wie die Geometrie und die Mathematik, überhaupt ihre Begriffe in der Anschauung construiren? – Recht wohl; und es wäre sehr schlimm, wenn sie dies könnte; denn dann hätten wir keine Philosophie, sondern Mathematik: – aber sie kann und soll sie aus einem einzigen Grundsatze, den jeder zugeben muß – durch Denken deduciren. Die Form der Deduktion ist die gleiche, wie sie in der Mathematik gilt, nämlich die von der allgemeinen Logik vorgeschriebene. – Ich weiß wohl, verehrungswürdiger Gönner, wie viel ich durch dieses Alles, und wie viel ich in jener Recension behauptet und ver[/]sprochen habe: ich that es aber darum doch nicht so ganz ohne Ueberlegung. Ich habe wirklich schon den Grundriß auf meinen Grundsatz aufgebaut, und den Uebergang zur praktischen gefunden. Die letztere zu bearbeiten muß aber um so leichter gelingen, da die Form des Gebäudes von der theoretischen her für sie vorhanden ist.
Aber mit welcher Freiheit und Unbefangenheit unterhalte ich Sie von meinen Entwürfen, Planen, vermeinten Entdeckungen, ehe ich recht weiß, ob ich die Erlaubniß dazu nicht verloren habe! Doch hinweg aller Zweifel! Wenn mein erster Brief Ihnen nicht mißfiel, so konnte auch mein letzter Ihnen nicht mißfallen. In dieser Hoffnung erlaube ich mir noch Eins. – Ich habe es von Ihnen erbeten, blos den verehrungswürdigen Mann und Gelehrten, und nicht den Oberhofprediger in Sachsen in Ihnen zu erblicken, und diese Erlaubniß ist mir zu theuer, als daß ich selbst mich ihrer entäußern sollte. Aber vielleicht darf ich jenem verehrungswürdigen Manne und Gelehrten zuweilen einen Namen nennen, der vor einem Manne genannt werden darf, welcher jedes Verdienst schätzt, weil er sie alle in sich vereinigt. – Dürfte ich es, so würde ich Ihnen jetzt M. Weißhuhn nennen: (Friedrich August, nicht sein älterer Bruder). Von seinen außerordentlichen Talenten, die sich von den frühesten Jahren an mit einer bewundernswürdigen Reife zeigten, kann Ihnen Jeder sagen, der in den Jahren 1773–1779 in Schulpforte gewesen ist; von seinem trefflichen Charakter ich, der ich seit dem Jahre 1781 sein vertrautester Freund bin. Unter dem Druck der Umstände welkten in den letzten 5 Jahren Talente, wie sie selten vereinigt sind, in seines Vaters Hause zu Schönerwerda (bei Querfurt) langsam dem Grabe zu. Er schreibt mir, daß er jetzt etwas gesünder sey. Ich habe ihm gerathen, sich Ihnen bekannt zu machen, und ich hoffe, er thut es. Einen Pfarrer B. zu W., dessen höchst dürftige, den Geist rein niederdrückende Umstände – wie die der thüringischen Landpfarrer im Durchschnitt sind; und um dies zu seyn studirt man? – ich auf [/] meiner letzten Reise ganz in der Nähe gesehen habe, würde ich auch nennen; aber es liegt außer dem Zirkel, den mir die Bescheidenheit vorzeichnet.
Nun ein schriftlicher Beweis Ihrer fortdauernden gütigen Gesinnungen wird völlig beruhigen
Ew. ec.
beständigen Verehrer
Fichte.
Metadata Concerning Header
  • Date: Mittwoch, 15. Januar 1794
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Franz Volkmar Reinhard
  • Place of Dispatch: Zürich · ·
  • Place of Destination: Dresden · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 39‒41.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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