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Johann Gottlieb Fichte to Karl Leonhard Reinhold

Zürich, d. 1. März. 1794.
Theuerster, verehrtester Freund,
Im frohen Gefühl mit dem würdigsten Manne nun in derjenigen Vereinigung zu stehen, die ich so innig wünschte, mache ich Gebrauch von dem Vertrauen, wozu dieselbe mich berechtigt. Gewiß bedürfen wir beide das so tief in unser Herz geprägte uns nicht erst zu erweisen; und gewiß haben unsre Untersuchungen keinen andern Endzwek, als den, diese heiligen Ueberzeugungen gegen den Schein, der sie in schwachen Stunden in uns selbst, oder in andern erschüttern könnte, völlig sicher zu stellen. Die Recension des Aenesidemus in der A.L. Z. als deren Verfaßer ich mich Ihnen nenne, wird Ihnen gezeigt haben – ich wünsche beides mit gleicher Evidenz – theils, wie sehr ich Ihre Untersuchungen schätze, und wie viel ich Ihnen verdanke, theils, wo ich auf dem Wege, den Sie so rühmlich gegangen sind, weiter gehen zu müßen glaube. Ich habe das System, auf welches ich dort hindeute, wenigstens dem grösten Theile nach, aber noch bei weitem nicht bis zur Mittheilung klar, entworfen. Und dennoch ist meine Uebereinstimmung mit Ihnen, nicht nur in den Hauptresultaten, sondern auch bis auf die kleinsten Bestimmungen – nicht etwa bloß in dem, was Ihnen von mir schon bekannt ist, sondern hauptsächlich in meinen neuen Ueberzeugungen – so gros, daß ich einer einstigen gänzlichen Uebereinstimmung mit Ihnen fast sicher entgegensehe; und daß ich gern glaube, das, was ich bis jezt für Verschiedenheit ansehe, beruhe darauf, daß ich Ihr System bis jezt noch nicht völlig gefaßt habe. – Eben so geht [/] es mir mit Kant, deßen Schriften verstanden zu haben ich jedoch mit weit größerer Ueberzeugung glaube. Es wird mir immer wahrscheinlicher, daß K. gerade aus meinen Grundsätzen gefolgert habe, ob er sie gleich nicht wörtlich, sondern öfters etwas, das ihnen den Worten nach zu widersprechen scheint, aufstellt, und weit weniger systematisch ist, als ich zu seyn wünsche.
Was kann ich dabei thun? Ich muß, glaube ich, fürs erste mein eignes System bis zur Mittheilung aufklären. Entweder erhalte ich bei dieser Arbeit die Fähigkeit, das Ihrige völlig zu verstehen, oder ich bin so glüklich, Ihnen das meinige deutlich zu machen. Und dann muß es sich zeigen, wo der Grund der Verschiedenheit eigentlich liegt. Denn nur durch Sie, verehrtester Freund, wünsche ich beurtheilt, und berichtigt zu werden; auch würde mir, soviel ich mich kenne, kaum irgend ein Andrer, den ich wüßte, diesen Dienst leisten können.
Ihre vortrefliche Schrift über das Fundament des philosophischen Wißens habe ich mehrere mahle gelesen, und sie immer für das Meisterstük unter Ihren Meisterstüken gehalten. Ich stimme mit dem, was Sie daselbst über das allgemeine Verfahren bei der philosophischen Reflexion, über die Erforderniße einer Philosophie überhaupt, und insbesondre ihres ersten Grundsatzes sagen, so sehr überein, daß ich nachweisen könnte, ohngefähr das gleiche, noch ehe ich Ihre Schrift gelesen hatte, niedergeschrieben zu haben. Um desto unerklärbarer ist mir es bis jetzo, woran es liegen möge, daß ich dem Satze des Bewußtseyn’s – (dem Ihrigen –) die Merkmale eines ersten Grundsatzes, über die wir völlig einig sind, nicht zuerkennen kann. Nach mir ist er ein Lehrsaz, der durch höhere Sätze bewiesen, und bestimmt wird. – Den zweiten Theil Ihrer Beiträge, von dem ich besonders den Aufschluß erwarte, wovon Sie jezt die Kategorien ableiten werden – deren Ableitung von den logischen Formen der Urtheile eine Gesezgebung der Logik für die Philosophie voraussezt, die ich nicht anerkenne – und worauf Sie eine praktische Philosophie bauen werden: habe ich begierig erwartet. – Ueberhaupt darf ich mir vielleicht das Zeugniß geben, daß ich die gehörige Mühe [/] darauf gewandt habe, Ihr System zu verstehen; wie ich denn z.B. über Ihre neue Darstellung der HauptMomente der El.Ph. in den Beiträgen, auf Veranlaßung obiger Recension, mehr als 12. Bogen niedergeschrieben habe. – Es bleibt mir nichts übrig, als die völlige Einsicht in das Ihrige von Ihren Bemerkungen über mein künftiges zu erwarten. Muß ich bis dahin das, was ich bis jezt für Ihre Gedanken halte, beurtheilen – und wie kann man irgend etwas über die kritische Philosophie sagen, oder schreiben, ohne stets zu Ihnen zurük zu kommen? – so gilt mein Urtheil natürlich nicht weiter [für] Sie, als insofern ich Ihre Gedanken wirklich getroffen habe; und ich würde, auch wenn nicht, wie jezt, die innigste Freundschaft Ihren Ruhm zu dem meinigen machte, dennoch nie in einem andern Tone es gethan haben, als in dem, welchen die Ehrerbietung gegen den scharfsinnigsten Denker unsers Zeitalters erlaubt.
Den zweiten Theil meines Beitrags habe ich vorigen Sommer, unter beständigen Zerstreuungen, und einem großen lärmenden Baue gegenüber in 4. Wochen niedergeschrieben. Haben Sie daher Geduld mit ihm. Ich hofte damals nicht, daß Männer, wie Sie, ihre Augen auf diese Schrift werfen würden, und schrieb sie hin, um nur den Verleger zu befriedigen. Beurtheilen Sie sie aus diesem Gesichtspunkte. Das Kapitel über den Adel würde ich jezt gewiß ganz anders bearbeiten. Ueber die Kirche aber glaube ich manches neue gesagt zu haben. – Eine kleine Schrift: Zurükforderung der Denkfreiheit pp Eine Rede. ist auch von mir. Der Rec. in der A.L.Z. meint, es sey nichts neues darin gesagt. Daran kann er recht haben. Er tadelt den Gebrauch des Ausdruks Denkfreiheit, und Gewißen; daran hat er gewiß recht; nur daß ich es so gut wüste, als er, und um der Verständlichkeit willen mich des gewöhnlichen Ausdruks bedienen wollte. Wenn er aber wegen einer gewis[/]sen Stelle mich des Jesuitism beschuldigt, so hat er gewiß unrecht. Wenn Jesuitism in der Verwechselung der Moral, und des Naturrechts besteht, so ist er der Jesuit; denn er hat einen Saz, den ich ausdrüklich als einen naturrechtlichen aufstellte, für einen moralischen genommen. Es ist eine Kleinigkeit – jene Schrift; aber ich glaube, daß sie einiges Verdienst in Absicht der Diktion hat. Sie ist, wie mir der Verleger klagt, fast gar nicht bekannt worden.
Wißen Sie, wer zu Ihrem Nachfolger in Jena ernannt ist? Ich bin dazu ernannt. Urtheilen Sie, wie groß meine Freude darüber ist, daß ich eben Ihr Nachfolger seyn soll. Unendlich lieber wäre es mir freilich, wenn ich Ihr College hätte seyn können. Bis in die Mitte des Mäi werden Sie wohl nicht in Jena bleiben: dann könnte ich die Freude haben, Sie daselbst zu sehen. Doch habe ich Hofnung, daß auch diese mir einst zu Theil werden wird. Meine Frau wünscht noch einmal Hamburg zu sehen, wo sie ihre Kindheit verlebt, und wo sie Verwandten hat; ich könnte demnach sehr leicht einmal in den Osterferien von Jena aus dahin reisen; und Sie entweder dort, oder in Kiel selbst sehen. – Haben Sie mir, Jena und meine künftige Lage daselbst betreffend, Nachrichten zu geben, so erwarte ich dieselben zutrauensvoll von Ihrer Freundschaft.
Eine angenehme Aussicht für die kritische Philosophie! Für Zürich schien sie bisher nicht gemacht zu seyn: seit einiger Zeit aber halte ich vor Lavater (diesem treflichen Manne, deßen beßere Kenntniß ich auch unserm Baggesen verdanke, und der mir täglich lieber und schäzbarer wird) und mehrern der ersten Männer Zürichs, Vorlesungen darüber. Freilich kann binnen hier, und dem Ende künftigen Monats nicht viel mehr als ein Vorschmak gegeben werden; aber wenn nur der Trieb des Selbstdenkens in einigen erwekt, und das herrschende Vorurtheil gegen die kritische Philosophie ein wenig erschüttert wird, so ist der Gewinn schon groß genug.
Ich freue mich, wenigstens auf schriftliche Unterredungen mit Ihnen Aussicht zu haben, da ich mündliche vor der Hand kaum hoffen darf; und umarme Sie voll Verehrung und Freundschaft
Ganz der Ihrige
Fichte.
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 1. März 1794
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Karl Leonhard Reinhold
  • Place of Dispatch: Zürich · ·
  • Place of Destination: Jena · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 77‒80.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: B 83
Language
  • German

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