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Johanna Fichte to Samuel Gotthelf Fichte

Jena d. 27. Decemb: 1794.
Lieber theurer Bruder!
Ich habe eine Menge Briefe vor mir, die ich beantworten soll, und Ihrer sey der erste, den ich beantworte, weil Sie mir die liebste Persohn [/] sind. Hören Sie Lieber, ich bin gar nicht Ihrer Meinung, daß ein schön geschriebner Brief, eine schöne Seele verathe; (nicht, daß nicht beydes neben einander bestehen könne,) aber die Erfahrung hat mir schon zur Gnüge gelehrt, daß es oft nicht bey einander ist; und wenn ich Ihnen allso, welches ich nicht weiß, einen schönen Brief geschrieben habe, Sie daraus gar nicht so gütig schließen müßen, daß ich eine schöne Seele habe; überhaubt sehe ich aus Ihr. Lieben Brief, daß Sie mich viel beßer glauben als ich nicht bin; und das sezt mich in große Verlegenheit, wenn Sie mit solch guter Meinung zu uns kommen, und denn durch die Erfahrung belehrt, sehn, daß ich das bey weitem nicht bin, was Sie glaubten, daß ich sein würde, und auch sein könnte, so muß ich in Ihren Augen gewaltig verliehren; und das würde mir dann weh thun; auch müßen Sie nicht glauben eine schöne Schwester bekommen zu haben; denn ich weiß wohl, die Lieben Männer sehn auch das gern, drum laßen Sie Sich nun erzehlen, wie ich aussehe: vors erste bin ich klein, und war im 16. Jahre sehr fett, da ich seit der Zeit um ein merklichs gemagert bin, so hat die einmahl zu stark ausgedehnte Haut, viele Runzlen bekommen, dazu gab mir die Natur ein wiedrig langes Kinn; und was nun das ärgste von allem ist, so hab ich, wegen heftigen Zahnschmerzen, (welches fast alle Leute in der Schweiz haben,) mir meine obern Zähne ausziehn laßen; nun überlaße ich Ihrer eignen Einbildungskraft, mich so comisch darzustellen, als ich wirklich bin.
Nachdem, was Sie mein Lieber, was mein Mann, mir von unsern Vatter gesagt hat, fühl ich viele Achtung für Ihn, und ich bitte Sie, ihn herzlich in meinem Namen zu grüßen; ich hätte schon an Ihn geschrieben, hielte mich nicht der Gedanke, der guten Mutter davon ab, denn ich muß Ihnen gestehn, daß, nachdem, was ich von ihr gehört, ich Sie wirklich fürchte; Wir wollen [Sie] Lieber Bruder, als gute Kinder ehren, und nicht vergeßen was sie während ihrem mühsamen Leben, an ihren Kindern gethan hat; auch kennen wir ihre Erziehung nicht, wißen nicht, wie das alles so kam; und vielleicht nach ihrer Lage kommen mußte.
Ja Lieber, es wird einst auch ein gutes Geschöpf für Sie dasein, [daß] Sie aufrichtig Lieben wird; und ich will es denn zu seiner Zeit mit Ihnen suchen; ich biete mich darum zu Ihrer Rathgeberin, über diesen wichtigen Schritt, an, weil wir Weiber tiefer in die Seele unsers Geschlechts hineinbliken, als oft die klügsten Männer nicht thun; und denn, weil ich Sie gerne glüklich sehn möchte . . . . . Sie [/] sind mein Lieber Bruder, und wollen, und werden gewis ein brafer Mann werden, und drum lieb ich Sie sehr.
Sagen Sie mir nichts guter Lieber, von unsern gegenseitigen Verhältnißen, von Wohlthaten, wie Sie es nennen; wir wollen wie gute Kinder sein, welche mit einander theilen, und durch dieses theilen, ihrem eignen Herzen eine Wohlthat erzeigen.
Mein theurer Vatter, welcher, ich darf es sagen, an Güte des Herzens uns alle übertrift, grüßt Sie von ganzer Seele, und freut sich recht drauf Sie kennen zu lernen; Er wird Sie, wie seinen Sohn lieben. Er hat ein Herz [daß] lieben kann, und dem nicht wohl ist, wenns nicht lieben kann.
Wenn Sie ein Freund der Natur sind, so werden Sie auch an mir eine Freundinn der Natur finden, denn kann ich orndlich schwärmen, aber doch nicht mehr in dem Grade, wie ichs konnte; dieses Gefühl hat sich ein wenig bey mir verlohren, und es ärgert mich sehr.
Leben Sie wohl Lieber theurer Bruder! Schreiben Sie bald, und vergeßen Sie nicht, wie Sie aufrichtig Liebt Ihre Schwester
Johanna Fichte
Herrn Fichte:
abzugeben beym Herrn Conrector Thieme
Frey: in Meisen
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 27. Dezember 1794
  • Sender: Johanna Fichte ·
  • Recipient: Samuel Gotthelf Fichte
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Meißen · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 242‒244.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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