Single collated printed full text without registry labelling not including a registry

Friedrich Schiller to Johann Gottlieb Fichte

Jena den 3. Aug. 95.
Ich beantworte Ihren Brief auf der Stelle, und folglich auch nur denjenigen Theil deßelben, der sich so schnell beantworten läßt. Ueber die aesthetische Parthie unsres Streits, lieber Freund, werden wir nie einig werden, und wollen also auch nicht mehr streiten. Nicht sowohl deßwegen, weil wir in Principien verschieden sind, denn diese müßten doch endlich gewürdigt werden können, sondern, deßwegen weil wir verschiedene, höchst verschiedene Naturen sind, weil wir ganz verschieden empfinden. Freylich muß auch darüber ein Ausspruch gefällt werden können, aber von einer beßern Autorität, als das Publikum, so wie es ist, oder ein einzelner aus demselben seyn kann. Sie lieben, wie es scheint, den Apell an andre Richter, und es ist schon das zweyte mal, daß Sie mich an den Ausspruch des Publikums verweisen. Ich muß aber eine ganz andere Idee von dem deutschen aesthetischen Publikum bekommen, [/] als ich habe, um in einer Sache, worüber meine Vernunft und Empfindung, nach einer langen mühseligen und ernstlichen Crise, entschieden haben, eine solche Stimme zu respektieren. Es giebt nichts roheres als den Geschmack des jetzigen deutschen Publikums, und an der Veränderung dieses elenden Geschmacks zu arbeiten, nicht meine Modelle von ihm zu nehmen, ist der ernstliche Plan meines Lebens. Zwar habe ich es noch nicht dahin gebracht, aber nicht weil meine Mittel falsch gewählt waren, sondern weil das Publikum eine zu frivole Angelegenheit aus seiner Lecture zu machen gewohnt ist, und, in aesthetischer Rücksicht zu tief gesunken ist, um so leicht wieder aufgerichtet werden zu können.
Auch kann ich in Rücksicht auf den philosophischen Vortrag keine Vergleichung [/] meiner Manier mit der eines andern gelten lassen, am wenigsten mit der Manier eines lediglich nur didaktischen Schriftstellers. Meine beständige Tendenz ist, neben der Untersuchung selbst, das Ensemble der Gemüthskräfte zu beschäftigen, und soviel möglich auf alle zugleich zu wirken. Ich will also nicht bloß meine Gedanken dem andern deutlich machen, sondern ihm zugleich meine ganze Seele übergeben, und auf seine sinnlichen Kräfte wie auf seine geistigen wirken. Diese Darstellung meiner ganzen Natur auch in trockenen Materien wo der Mensch sonst nur als Genus zu sprechen pflegt macht zu Beurtheilung meiner Manier einen ganz andern Standpunkt nöthig, und indem Sie mir einen Home u. dgl. einen entgegen setzen, beweisen Sie deutlich, daß Sie nie über mich hätten urtheilen sollen. [/]
Sie sagten mir in einem der vorigen Briefe, daß ich meine Speculationen in Bildern vortrage, und daß man mich erst übersetzen müsse, um mich zu verstehen. Das thut mir leid, aber warlich nicht meinetwegen. Zeigen Sie mir in allen meinen philosophischen Aufsätzen einen einzigen Fall, wo ich die Untersuchung selbst (nicht bloße Anwendungen derselben) in Bildern abhandle. Das wird und kann nie mein Fall seyn, denn ich bin beynahe scrupulöß in der Sorgfalt meine Vorstellungen deutlich zu machen. Habe ich aber die Untersuchung mit precision und logischer Strenge geführt, so liebe ich es und beobachte es zugleich aus Wahl, eben das was ich dem Verstande vorlegte auch der Phantasie (doch in strengster Verbindung mit jenem) vorzuhalten. Ich verweise Sie, wenn Sie diese Bemerkung verificieren wollen auf das VIste Stück der Horen, weil gerade [/] hier die Anwendung bequemer ist. Wenn Sie hier in dem 19, 20, 21, 22 und 23 Briefe, wo eigentlich der Nervus der Sache vorkommt, eine unzweckmäßige Sprache finden, so weiß ich in der That keinen Punkt der Vereinigung in unsern Urtheilen mehr.
Wenn ich gegen jede Instanz protestiere, so geschieht dieses nicht darum, weil ich nichts dabey zu hoffen habe, denn wenn je darnach abgeurtheilt werden sollte, so könnte ich es noch immer darauf wagen, und die Instanz welche Sie vorschlagen, nehmlich Göthe, möchte Ihnen am wenigsten gefallen. Göthe kann aber nicht gerecht gegen Sie seyn, und sein Urtheil nichts wider Sie beweisen. Er ist viel zu fremd in dem philosophischen Gebieth, als daß er mit den aesthetischen Uebertretungen, die er Ihnen vorwerfen würde, könnte ausgesöhnt werden. Sonderbar genug ist es, daß Sie von mir erst hören müssen, wie wenig Göthe dazu taugt, Ihre Parthie zu ergreifen. [/] Eben so sonderbar ist es, daß Sie mir absprechen über den Geschmack und den ganzen Ton Ihrer Schriften zu urtheilen, und dieses Amt Göthen übertragen, der in seinen eigenen Mscrpten und Schriften über diesen Punkt mich zum Richter anerkennt, und meine Urtheile befolgt.
Ich glaube übrigens, daß Sie wohl thun, wenn Sie Sich einmal mit ihm darüber erklären, denn es könnte doch seyn, daß Sie ihm glauben, was Sie mir nie glauben werden.
Sie berufen Sich auf das Schicksal unserer Schriften nach 10 Jahren. Ich will zwar nicht prognostizieren, denn wer kann in dem Betragen des deutschen Publikums eine Regel und eine Consequenz entdecken? Soviel ist aber gewiß, daß wenn meine Schriften auch dem Innhalt nach sich nicht halten könnten, schon der einzige Umstand, daß sie zugleich ein aesthetisches Produkt sind, ein ganzes Individuum darstellen, ihnen eine Dauer, ich will nicht sagen eine Parthie [/] versichern würde. Eine bloß didactische Schrift kann sich, wenn sie nicht eine absolutentscheidende und dauerhafte Epoche macht, bey der Rapidität der Litteratur nicht halten, denn wenn man im Wißen fortschreitet, so weiß alsdann schon der Lehrling, was ehmals dem Meister viel zu schaffen machte. Hingegen ein Individuum welches sich in einem Buche lebendig abgeworfen hat, ist und bleibt ewig das einzige in seiner Art, und kann zwar verkannt aber nie ersetzt werden. [/]
Es ist traurig, daß selbst unter Zeitgenoßen, unter Menschen die in dem Jahrhundert worin sie leben eine eigene Familie formieren sollten und könnten eine so enorme Differenz und ein so unauflößlicher Streit obwaltet, daß das Eigenthümliche immer isoliert bleibt, und dgl. daß dieses selbst unter den Philosophen die von der wahren Schätzung der Dinge Profession machen sollten, gerade am meisten statt findet und dgl.
Wir haben in einer Zeit gelebt, und die Nachwelt wird uns als Zeitgenoßen zu Nachbarn machen etc aber wie wenig haben wir uns vereinigt.
Der verkennt mich ganz, der mich als Lehrer schätzen will – dazu hat weder die Natur mich berufen, noch mein Bildungsgang mich qualifiziert. Der Lehrer muß gelehrt seyn, und es giebt vielleicht unter allen Schriftstellern, die man kennt, wenigstens im philosophischen Felde keinen, der es so wenig ist als ich – und in einem so enormen Grade wenig, daß wenn ich Ihnen sagen wollte, was ich in meinem ganzen Leben von philosophie u dgl. gelesen habe, Sie nicht wißen würden, ob Sie
[...] einzelnen etwas ändern, aber nie die Natur umkehren. Wären wir bloß in Principien getheilt, so wollte ich es herzhaft versuchen, entweder Sie auf meine Seite zu ziehen, oder zu der Ihrigen zu übergehen; aber wir empfinden verschieden, wir sind ganz verschiedne Naturen und dagegen weiß ich keinen Rath. Die einzige Art, wie wir uns hier miteinander vereinigen können ist diese, daß wir gemeinschaftlich die Maxime der gesunden Vernunft adoptieren, welche lehrt, daß man Dinge welche man einander nicht gleich setzen kann, einander auch nicht entgegen setzen müsse!
Freylich muss sich auch über die Natur und über den aesthetischen Theil des Menschen etwas bestimmen laßen können; aber nach Ihren eigenen Grundsätzen, nicht aus Vernunftprincipien. Sie gestehen dieß selbst in [Ihrem] Aufsatz, und [Ihre] öftern Appelle an fremde Urtheile in unserer [/] gegenwärtigen Streitigkeit beweisen, daß Sie nicht die Vernunft sondern die Empfindung (oder beßer den ganzen Menschen) als aesthetischen Richter anerkennen. Ich bin hierinn vollkommen Ihrer Meinung, nur werden Sie mir verstatten müssen, daß ich in der Wahl dieses aesthetischen Mittelsmanns mein aesthetisches Gefühl selbst zum Führer nehme.
Ich muss eine ganz andere Idee von dem deutschen Publikum bekomen, als ich gegenwärtig habe, wenn ich in einer Sache, worüber meine ganze Natur, nach einer langwührigen und mühseligen Crise endlich mit sich einig geworden ist, sein Ansehen respectieren soll. Das allgemeine und wirklich revoltante Glück der Mittelmäßigkeit in unsren Zeiten, die Rohigkeit auf der einen Seite, und die verächtliche Schlaffheit auf der andern erfüllen mich mit einem so herzlichen Eckel vor unserm deutschen Publikum [/] daß ich mich in einer unglücklichen Stunde bereden laßen könnte, diesen elenden Geschmack zu bekämpfen, aber mir niemals verzeyhen würde, ihn zu meinem Modell gemacht [zu] haben. Aber glücklicherweise ist die eine Thorheit so fern von mir als die andere. Unabhängig von dem allen, was um mich herum gemeynt und bewundert wird folge ich bloß dem Zwange meiner Natur oder dem meiner Vernunft, und weil es mir nie eingefallen ist, eine Sekte zu stiften oder eine Schule anzulegen, so hat diese VerfahrungsArt (welche ich im Vorbeygehen für die einzige einem Philosophen anständige halte) keine Ueberwindung gekostet. Bey dieser Stimmung meines Gemüths muß es mir freylich sonderbar genug vorkommen, wenn mir von dem Eindrucke den meine Schriften auf den Gros des Publikum machen, gesprochen wird –. Hätten Sie die letztern mit einiger Aufmerksamkeit gelesen, so würden Sie nicht von mir zu hören brauchen, daß eine direkte Opposition gegen den Geist des Zeitalters der Hauptcharakter derselben ist, und daß eine andere Aufnahme ein sehr bedenklicher Beweis [/] gegen ihren Innhalt wäre. Beynahe jede Zeile, die seit den letzten Jahren aus meiner Feder gefloßen ist, trägt diesen Character und wenn ich aus äußern Gründen nicht gleichgültig seyn kann, ob ich ein großes oder kleines Publicum habe, so habe ich mich wenigstens auf dem einzigen Wege darum beworben, der meiner Individualität entspricht – nicht das Publikum durch Anschmiegung an seine VorstellungsArt zu gewinnen, sondern es durch die kühne Aufstellung der Meinigen zu überraschen, zu erschüttern, und anzuspannen. Ein solcher Schriftsteller kann der Natur der Sache nach nie geliebt werden, denn man liebt nur, was einen in Freyheit setzt, nicht was einen zwingt, aber er erhält dafür die Satisfaktion, von der Armseligkeit gehaßt, von der
mit Begeisterung aufgenommen und von der Feigheit mit [/]
[...] Ein Individuum immer das Einzige in s. Art und nie ersetzt und nie erschöpft werden kann. So lange sie in ihren Schriften nichts anders enthalten, als worinn ein nachdenkender Mensch durch s. bloßen Verstand ihnen folgen kann, so können Sie sicher seyn, daß ein anderer nach Ihnen kommen, und was Sie gesagt haben, anders und beßer sagen wird – denn der Verstand schreitet bekanntlich ewig weiter, und ist in kein[em] Punkt seiner Bahn ein Unendliches. Aber nicht so dasjenige, was die EinbildKr. darstellt. Ich gebe zu, daß jetzt und künftig manches – vielleicht das beßte – in meinen Schriften von der Beschaffenheit ist, daß es sich schwer ja manchen gar nicht mittheilen läßt, und den Vorwurf den Sie mir dadurch machen will ich Ihnen mit Freuden zugeben. Aber sobald der Effekt den sie machen (gleich viel bey wie wenigen oder vielen) aesthetischer Art ist, sobald ist dieser Effekt für alle folgenden Zeiten (in welchen man die Sprachen des [/] Autors versteht, [)] gesichert. Ob – wie – und in welchem Grade der Extensität und Intensität meine Schriften aesthetisch wirken, das, sehen Sie wohl ein, ist etwas, was hier nicht verhandelt werden kann. Die Minor mag also auf sich beruhen: gegen die propositio major werden Sie aber wie ich hoffe nichts einzuwenden haben. (Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß wenn ich das aesthetische allein für unsterblich erkläre, dieses keinen Vorzug gegen das andre begründen soll; denn Unsterblichkeit kommt beyden Arten von Werken zu, nur mit dem Unterschied, daß von der einen Art Schriften die Folgen und von der andern der Individuelle Effekt ewig lebt. Wenn Aristoteles nicht mehr gelesen wird, so ist sein Einfluß auf [/] seine Wißenschaft und folglich sein Ruhm dennoch ewig, auch wenn sein Nahme vergeßen würde.) Aber ich mußte [Ihnen] dieses sagen, weil [Sie] unsere beyder Schriften in einem Punkte vergleichen, worinn sie nach meiner Ueberzeugung ganz erstaunlich aus einander weichen.
Ueberhaupt beweisen mir mehrere Ihrer Aeuserungen, daß Sie über den Standpunkt, aus welchem mein Individuum zu beurtheilen ist, in einem sonderbaren Irrthum schweben. (Ich sollte zwar seitdem Sie über eine Schrift wie die von H. Örtel über Humanität ekstasiert und mich zum Verfaßer davon gemacht, den Muth nicht mehr haben, mit Ihnen über einen solchen Gegenstand zu diskutieren) Wenn Sie
Jena den 4. Aug. 1795.
Es thut mir leid, lieber Freund, daß ich zu einem Streit über unsere Manier zwischen uns beyden Gelegenheit gegeben, der nie geendigt werden kann, und nie hätte von mir angefangen werden sollen. Ein mißverstandenes Bestreben nach Billigkeit verführte mich dazu; ich wollte bey Ausschließung Ihres Aufsatzes von den Horen den Vorwurf der Willkühr und Caprice vermeiden, und deßhalb mein Verfahren motivieren; ich vergaß aber, daß eben das, was jenen Aufsatz von den Horen ausschloß, allen meinen Gründen den Zugang zu Ihnen sperren mußte. Ich hätte mir nehmlich billig selbst sagen sollen, daß eben weil [Sie] so schreiben, und weil [Sie] von dieser Schreibart so denken, weil [Sie] ein solches Individuum sind, [Ihnen] durch keine Gründe, die mein Individuum zur Quelle haben, würde beyzukomen seyn: denn der aesthetische Theil eines Menschen ist das Resultat s. Natur, und durch Räsonnement lassen sich wohl einzelne Vorstellungsarten ändern, aber nie die Natur umkehren. Wären wir bloß in Principien getheilt, so hätte ich Vertrauen genug zu unserer beyderseitigen Wahrheitsliebe und Capacität, um zu hoffen, daß der eine den andern endlich auf seine Seite neigen würde; aber wir empfinden verschieden, wir sind zwey ganz verschiedne Naturen und dagegen weiß ich keinen Rath. Die einzige Art, wie wir uns hier miteinander vereinigen könnten, wäre diese, daß wir gemeinschaftlich die Maxime der gesunden Vernunft adoptierten, welche lehrt, dass man Dinge, welche einander nicht gleich zu setzen sind, einander auch nicht entgegen setzen müsse.
Freylich muss sich auch über die Natur u: über das Aesthetische [/] eines Menschen etwas ausmachen lassen können; aber nach Ihren eigenen Grundsätzen, wenigstens vor der Hand nicht nach Principien. Sie gestehen dieß selbst einmal in Ihrem Aufsatze, und Ihre wiederhohlten Appelle an fremde Urtheile in unserer gegenwärtigen Streitigkeit beweisen, daß [Sie] in diesem Gebiet nicht von der Vernunft sondern von dem Gefühl und von der Totalität des Individuums die Entscheidung erwarten. Ich bin hierin ganz Ihrer Meinung, aber eben darum werden Sie mir verstatten, daß ich in der Wahl eines solchen aesthetischen MittelsManns gleicher weise meine Empfindung zum Führer nehme.
Ich müßte eine ganz andere Meinung von dem deutschen Publikum bekommen, als ich gegenwärtig habe, wenn ich in einer Sache, worüber meine Natur nach einer mühsamen und hartnäckigen Crise endlich mit sich einig geworden ist, sein Ansehen respektieren sollte. Das allgemeine und revoltante Glück der Mittelmäßigkeit in jetzigen Zeiten, die unbegreifliche Inconsequenz welche das ganz Elende auf demselben Schauplatze, wo man kurz vorher das Vortrefliche bewunderte, mit gleicher Zufriedenheit aufnimmt, die Rohigkeit auf der einen und die Kraftlosigkeit auf der andern Seite erwecken mir, ich gestehe es, einen solchen Eckel vor dem, was man öffentliches Urtheil nennt, daß es mir – vielleicht zu verzeihen wäre, wenn ich in einer unglücklichen Stunde mir einfallen liesse, diesem heillosen Geschmack entgegen wirken zu wollen, aber wahrlich nicht, wenn ich ihn zu meinem Führer [/] und Muster machte. Glücklicher weise ist mir die eine Thorheit so fremd als die andre. Unabhängig von dem, was um mich herum gemeynt und geliebkoset wird, folge ich bloß dem Zwang entweder meiner Natur oder meiner Vernunft, und da ich nie Versuchung gefühlt habe eine Schule zu gründen oder Jünger um mich her zu versammeln, so hat diese Verfahrungsart (die einzige welche ich, im Vorbeygehen seys gesagt einem Philosophen anständig finde) keine Ueberwindung gekostet. Bey dieser Stimmung meines Gemüths muss es mir freylich sonderbar genug vorkommen, wenn mir von dem Eindrucke, den meine Schriften auf die Majorität des Publikums machen und nicht machen, gesprochen wird. Hätten Sie die letztern mit der Aufmerksamkeit gelesen, welche von dem partheylosen Wahrheitsforscher zu erwarten war, so würden Sie ohne meine Erinnerung wissen, daß eine directe Opposition gegen den Zeitcharakter den Geist derselben ausmacht, und daß jede andere Aufnahme als die welche sie erfahren, einen sehr bedenklichen Beweis gegen die Wahrheit ihres Innhalts abgeben würde. Beynahe jede Zeile, die seit den letzten Jahren aus meiner Feder gefloßen ist, trägt dieses Gepräge, und wenn ich gleich aus äußern Gründen, die ich mit noch mehr Schriftstellern gemein habe, nicht gleichgültig seyn kann, ob mich ein großes oder kleines Publikum kauft, so habe ich mich wenigstens auf dem einzigen Wege darum beworben, der meiner Individualität und meinem [/] Charakter entspricht – nicht dadurch, dass ich mir durch Anschmiegung an den Geist der Zeit das Publikum zu gewinnen, sondern dadurch daß ich es durch die lebhafte und kühne Aufstellung meiner Vorstellungsart zu überraschen, anzuspannen und zu erschüttern suchte. Daß ein Schriftsteller, welcher diesen Weg geht, nicht der Liebling seines Publikums werden kann, ligt in der Natur der Sache, denn man liebt nur was einen in Freyheit setzt, nicht was einen anspannt; aber er erhält dafür die Genugthuung, daß er von der Armseligkeit gehaßt, von der Eitelkeit beneidet, von Gemüthern, die eines Schwunges fähig sind, mit Begeisterung ergriffen und von knechtischen Seelen mit Furcht und Zittern angebetet wird. Ich habe nie sehr gesucht von dem guten oder schlimmen Effekt meines schriftstellerischen Daseyns Erkundigungen einzuziehen, aber die Proben von beyden sind mir ungesucht aufgedrungen worden, und es geschieht noch biß auf den jetzigen Augenblick.
Dieß erinnert mich an diejenige Stelle Ihres Briefs, wo Sie Sich auf den Ausspruch des Publikums über uns beyde nach zehen Jahren berufen. Was nach 10 Jahren geschehen wird, weiß ich zwar nicht; ich zweifle aber nicht im geringsten, daß wenn Sie, wie zu hoffen, alsdann noch leben, noch lehren und noch schreiben, Sie dafür sorgen werden, Ihre Philosophie und [Ihr] Individuum bey Zuhörern und Lesern im Andenken zu erhalten, ich hingegen, wie [/] zu vermuthen ist, alsdann weder mehr lehre noch mehr schreibe[,] mit meiner Philosophie so still wie jetzt durch das Publikum gehen werde. Daß aber in 100 oder 200 Jahren, wenn neue Revolutionen über das Philosophische Denken ergangen sind, Ihre Schriften zwar citiert und ihrem Werth nach geschätzt, aber nicht mehr gelesen werden, dieß liegt eben so sehr in der Natur der Sache als es darinn ligt, daß die meinigen (von denen versteht sich, welchen sie zufällig in die Hände fallen, denn darüber entscheidet die Mode und das Glück) alsdann zwar nicht mehr aber gewiß auch nicht weniger denn jetzt gelesen werden. Und woher möchte dieses kommen? Daher, weil Schriften, deren Werth nur in den Resultaten ligt die sie für den Verstand enthalten, auch wenn sie hierinn noch so vorzüglich wären, in demselben Maasse entbehrlich werden, als der Verstand entweder gegen diese Resultate gleichgültiger wird, oder auf einem leichtern Weg dazu gelangen kann: da hingegen Schriften die einen, von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt machen, und in denen sich ein Individuum lebend abdrückt, nie entbehrlich werden, und ein unvertilgbares Lebensprinzip in sich enthalten, eben weil jedes Individuum einzig und mithin auch unersetzlich ist.
Solange Sie also l. Freund in Ihren Schriften nicht mehr geben, als was jeder der zu denken weiß, sich aneignen kann, so können Sie sicher seyn, daß nach
Metadata Concerning Header
  • Date: 3./4. August 1795
  • Sender: Friedrich Schiller ·
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Oßmannstedt · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 360‒368.
Manuscript
  • Provider: Goethe- und Schiller-Archiv
Language
  • German

Weitere Infos ·