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Johann Gottlieb Fichte to Karl Leonhard Reinhold

Osmanstädt, d. 29. August. 1795.
Mancherlei Geschäfte haben mich verhindert, Ihnen eher zu schreiben, und die seit einigen Wochen fertig gewordene W.L. zuzuschiken.
Kein Urtheil kann dem Verfaßer derselben wichtiger seyn, als das des Verfaßers der Elementar Philosophie, der den leztern Schritt zur Erfindung der erstern that, wenn es eine giebt. Dürfte ich wohl noch dies vorschlagen, daß [Sie] diese Schriften vors erste ein oder zweimal cursorisch durchläsen, und erst von dem Standpunkte aus, auf welchen mehrere einzelne Stellen Sie nothwendig versetzen müßen, an das Studium, und die Prüfung des Ganzen gingen. Vielleicht wird §. 5. der Grundlage, vielleicht einzelne Betrachtungen im Grundriße des Theoretischen z. B. die Deduktion der Zeit, und des Raums die Arbeit sehr erleichtern. Besonders wiederhole ich meine Bitte[,] Worte Worte seyn zu laßen; es vor dem Ueberblike des Ganzen mit den einzelnen Theilen nicht genau zu nehmen; und ja diese Uebersicht nicht durch Zusammensetzung der einzelnen Theile, sondern die Einsicht in die einzelnen Theile von der Uebersicht des Ganzen aus zu suchen. – So ist nun einmal die fehlerhafte Einrichtung meiner Schriften, weil mein Kopf so eingerichtet ist, daß er entweder das Ganze auf einmal auffaßen muß, oder es nimmermehr bekommt. Bei den meisten der jeztlebenden gemachten Philosophen ist es mir nicht der Mühe werth, [zu untersuchen,] woher ihr hartnäkiges Nichtverstehen komme; bei Ihnen, an deßen Wahrheitsliebe, an deßen Bereitwilligkeit jedem Denker, und insbesondre mir Gerechtigkeit wiederfahren zu laßen, an deßen eifriges Streben nach Licht und Wahrheit ich so fest, als an mich selbst glaube, muß die Schwierigkeit, mich zu verstehn, von jenem Umstande herkommen, der die Oekonomie unsrer beiderseitigen Schriften, so sehr zu Ihrem Vortheile, unterscheidet.
Es würde in hohem Grade belehrend für mich seyn, bestimmt zu wißen, bei welchen Sätzen [Sie] anstoßen. Ich erwarte von einem Briefwechsel darüber so viel Vortheil, daß ich Sie dringendst darum bitte, wenn [Ihre] Zeit es erlaubt. In Streit soll er gewiß nicht ausarten.
Die weitere Anwendung meiner Grundsätze soll dieselben klar, und, wie ich hoffe, gemeinfaßlicher machen, als es noch je die Grundsätze irgend einer Philosophie waren. Ich habe diesen Sommer über über das NaturRecht Untersuchungen angestellt, und gefunden, daß es allenthalben an einer Deduktion der Realität des Rechtsbegriffes mangelt, daß alle Erklärungen deßelben nur formale, nur Wort=Erklärungen sind, die das Vorhandenseyn eines solchen Begriffs in uns, als ein Faktum, und was dieser Begriff [/] bedeute, schon voraussetzen – ihn nicht einmal aus dem Faktum des Sittengesetzes, welches ich eben sowenig ohne Deduktion gelten laße, gründlich deduciren. Ich habe bei dieser Gelegenheit K. Grundlegung z. M. d. S. revidirt, und gefunden, daß, wenn irgendwo, hier die Unzulänglichkeit der Kantischen Principien, und die von ihm selbst unvermerkt gemachte Voraussetzung höherer, sich handgreiflich darthun läßt.
Einer gewissen Maxime = A. widerspricht das Prädikat der Allgemeingültigkeit für vernünftige Wesen = B.: sagt, und erweis’t Kant. Ich antworte ihm: Das kann wohl seyn, geht aber mich nicht an, denn was soll mich denn vermögen, überhaupt A auf B. zu beziehen? Ich will eben jene Maxime für mich allein behalten; wenn sie gemeingültig wird, dann ist mir freilich das Spiel verdorben, das weiß ich; aber warum soll ich denn Maximen aus einer gewißen Sphäre nur unter der Bedingung zu der meinigen machen, daß sie als gemeingültig gedacht werden können? Hierauf antwortet Kant nichts.
Es ist klar, daß erst die Nothwendigkeit jener Synthesis des A u. B. – daß ein höherer Widerspruch, welcher ohne diese Synthesis Statt finden würde, aufgezeigt werden müße. Der Begriff eines Reichs vernünftiger Wesen, und überhaupt irgend eines vernünftigen Wesens außer mir, darf in einem solchen Beweise, durch den jener Begriff erst deducirt werden soll, nicht vorkommen. Er kann demnach nur aus dem bloßen Ich, er kann nur so geführt werden: Ich selbst kann mich nicht denken, ohne vernünftige Wesen außer mir anzunehmen. – Dies wäre sein Schema: 1.) Ich muß mir nothwendig ein gewißes Prädikat C. zuschreiben (C. folgt auf dem Wege der Synthesis von sich selbst aus dem Ich. C. ist im Ich, [ist vorher bewiesen] aber im Ich ist nichts, ohne daß es sich daßelbe zuschreibt, mithin. pp.) 2.) ich kann mir dieses Prädikat nur unter der Bedingung zuschreiben, daß ich vernünftige Wesen außer mir annehme (wird bewiesen durch vollständige Anwendung der Kategorie der Wechselwirkung, als des Gesetzes, nach welchem das Ich in seinem Sichzuschreiben des Prädikats C. verfährt) mithin pp Die vernünftigen Wesen außer mir sollen der Annahme nach mir vollkommen gleichen, mithin muß ich auch ihnen das Prädicat C. zuschreiben. Summa Summarum: ich kann C. mir nicht zu schreiben, ohne es Wesen außer mir zuzuschreiben. Beide Akte sind synthetisch vereinigt: Einer und derselbe. (Diese ganze Argumentation hat nur theoretische Gültigkeit. Denke ich der aufgezeigten Bedingung zuwider, so denke ich widersprechend. Es ist leicht zu zeigen, wie der Saz praktische Gültigkeit bekommt. Der höchste Trieb im Menschen geht [/] auf absolute Uebereinstimmung deßelben mit sich selbst, des theoretischen, und praktischen Vermögens, des Kopfes, und Herzens; anerkenne ich praktisch nicht, was ich theoretisch wohl anerkennen muß, so versetze ich mich in klaren Widerspruch mit mir selbst.)
Dann liegt in den Kantischen Grundsätzen noch folgender großer Mangel, der aus dem ersten entspringt. Ich frage bei der Maxime A. herum nach Uebereinstimmung, sagt ihr: – wie weit frage ich denn, und wo höre ich auf zu fragen, wo geht die Grenze? Bis zur Grenze der vernünftigen Wesen, habe ich gesagt, würde Kant antworten. Ich dagegen: das habe ich wohl vernommen; aber wo geht denn die Grenze der vernünftigen Wesen? Die Objekte meiner Handlungen sind doch immer Erscheinungen in der Sinnenwelt; auf welche unter diesen Erscheinungen übertrage ich denn nun den Begriff der Vernünftigkeit, und auf welche nicht? Das weißt du selbst nur gar zu wohl, müste Kant antworten; und so richtig diese Antwort ist, so ist sie doch nichts weniger, als philosophisch. Ich reite das Pferd, ohne es um Erlaubniß zu fragen, und ohne von ihm hinwiederum geritten seyn zu wollen; warum bin ich doch bei dem Pferdeverleiher bedenklicher. Daß das arme Thier sich nicht wehren kann, kann nichts zur Sache beitragen. Und so bleibt es immer eine sehr bedenkliche Frage, ob ich nicht auf die allgemeine Meinung gestüzt das Pferd mit eben dem Unrechte reite, mit welchem der rußische Edelmann, gleichfals auf die allgemeine Meinung gestüzt, seine Leibeignen verschenkt, verkauft, und zum Spaß knutet. – Diese Fragen werden abermals nur durch folgende Argumentation beantwortet: Ich kann mich nicht als Ich denken, ohne gewiße Dinge (diejenigen, welche nicht anfangen können) als mir völlig unterworfen zu denken. Zu ihnen stehe ich im Verhältniß der Ursache; zu andern Erscheinungen im Verhältniß der Wechselwirkung. Die menschl. Gestalt ist für den Menschen Ausdruk der lezten Klaße. Ich muß diese Gestalt an mir als unverlezlich denken; aber ich kann das nicht, ohne sie überhaupt als unverlezlich zu denken; beide Akte sind synthetisch vereinigt.
Die Anwendung dieser Sätze zur Hervorbringung eines NaturRechts ist leicht. Es findet sich im synthetischen Gange der W.L. der Saz: Ich muß mich als Individuum denken, d. h. als bestimmend in einer Sphäre von Dingen, die nicht anfangen können. [zunächst, mein Körper] (Die Individualität drükt sich nur in der Sinnlichkeit aus, das reine, unendliche Ich ist Eins; und da es Individualität eines Ich seyn soll, so kann sie nur thätig bestimmend seyn) bestimmt in einer Sphäre vernünftiger Wesen außer mir: ich kann das nicht, ohne eine solche Sphäre, und jedes Objekt in dieser Sphäre gleichfals als Individuum zu sezen: mithin pp. Es ist kein Individuum, wenn es ihrer nicht wenigstens zwei giebt. – Die Bedingungen der Individualität heißen Rechte. Es ist absolut unmöglich, daß ich mir ein Recht zuschreibe, ohne auch einem Wesen außer mir eins zuzuschreiben; da es absolut unmöglich ist, daß ich mich als Individuum setze, ohne ein Wesen außer mir als Individuum zu setzen. [/]
Diese Resultate, die sich sehr klar, und in die Augen springend machen laßen, die eine Menge täglich vorkommender, und gerade darum wenig bemerkter, aber auf den ersten Augenblik anzuerkennender Phänomene frappant erklären, die den gemeinsten Begriffen eine den Menschen mächtig ergreifende, und erhebende Stärke geben, sollen, denk ich, meine Grundsätze bald vor ferneren Verdrehungen sicher stellen und allgemein einleuchtend machen.
Ich werde zu Michaelis nach Jena zurükkehren. Durch militärische Gewalt ist die Ruhe wiederhergestellt. Wer nicht auf der Stelle eingestekt seyn will, muß wohl ruhen. Von einer Verbeßerung der Grundsätze ist nichts merklich. Es ist auffallend, wie die besten und verständigsten auf einmal den Verstand völlig verlieren, wenn die Rede auf die Gegenstände ihrer Vorurtheile, auf BurschenRechte, akademische Freiheit u. s. f. kommt. Die besten wollen freilich ihr Recht, Häuser zu stürmen, zu plündern, und zu rauben, nicht gebrauchen, aber das muß von ihrem guten Willen abhangen: sie mit Gewalt daran zu verhindern, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Gott mag es denen, die durch eine lange Praxis sie diese Grundsätze gelehrt haben, vergeben; ich kann es ihnen nicht vergeben. Ich bin dem Gedanken nahe, den ich sonst mit ganzer Macht bestritten, den ich im andern als ein sicheres Zeichen der Schlechtigkeit betrachtet – Gott verzeihe es mir – daß mit dieser Menschenklaße schlechterdings nichts anzufangen ist, daß man ihre Erziehung Gott und ihrem künftigen Schiksale überlaßen muß, und zufrieden seyn, wenn es so einzurichten ist, daß andere Leute es neben ihnen nur eben aushalten können. – Es werden jezt Dinge zum Vorschein kommen, die doch wohl jeden, in dem noch ein Funken Ehrgefühl ist, empören sollten. Bei D. Schmid hat die Rotte Zinn, Kupfer, Silber, Kleider, und, wie man sagt, sogar Geld geraubt, und es in Punsch versoffen. Für diese Handlung haben gegen 500. Studenten eine keke Forderung der Amnestie an den Herzog unterschrieben. Es verlangt mich zu sehen, ob es sie demüthigen wird, wenn diese ganze Schandthat aufgedekt vor ihnen liegen wird; ob sie erschreken werden zu sehen, wozu sie sich von den schändlichsten aller Menschen, den Direktoren der Orden, brauchen laßen. Schreklich ist’s, es zu sagen, aber es ist wahr – es ist schwerlich zu erwarten. Man hört, nicht unter Studenten allein, unter Profeßoren, u. noch höhern, die lautesten Klagen, daß um eines jugendlichen Muthwillens Willen so viele junge Menschen auf ihr ganzes Leben unglüklich werden sollen. Der Erfolg wird seyn: es werden 40. 50. mit und ohne Infamie relegiert, auf die Festung gesezt, mit dem consilium bestraft werden; die grundverdorbne Verfaßung, und die noch verdorbnere Denkart, und Sitten wer[/]den bleiben; und wir werden in einem halben Jahre, oder in einem Jahre alle Greuel wiederholt sehen. Ich, ohnerachtet man mich in diesen Gegenden auf die hämischste Weise anfeindet, verfolgt, und anschwärzt, besitze doch das Zutrauen der wenigen Rechtschafnen. Noch Ein braver muthiger Mann unter den Profeßoren, und ich, wir sagen, bitten, beschwören, rathen, discutiren, am rechten Orte; man findet das alles schön, wahr, gut, versichert uns seiner Achtung – und ich wette, es bleibt, wie es ist, und wir werden zulezt nichts gerettet haben, als unsre Seele. Es ist, sie wissen wohl, wo, nicht der stille Gang der Vernunft sondern ein Aufbrausen der Leidenschaft, auf welches hinterher eine desto größere Entkräftung folgen wird, und jene schändliche Indifferenz, welche gewiße Leute theoretisch und praktisch immerfort lehren. Wie gern wollte ich den Verlust, den ich und die meinigen durch diese weiten Reisen, durch wohlfeilen Verkauf, und theuren Einkauf einer ganzen Haushaltung, durch dieses Ziehen, und Wiederziehen, gemacht haben, und wieder machen müsten, verschmerzen, wenn ich irgendwo ein Stüken Brod bekommen könnte, das man mit Ehre eßen könnte; denn es ist wahrlich keine Ehre, solche Leute Weißheit zu lehren.
Ich hoffe, es werde bald <meine öffentliche> Rechenschaft an das Publikum über meine Begebenheiten zu Jena erscheinen. Ich möchte sie gern recht legitim machen; und das hält die Sache auf.
Leben Sie wohl, Lieber, Theurer, und haben ein wenig lieb, den der [Sie] so sehr liebt.
Fichte.
N. Sch. Indem ich das Exemplar auf SchreibPapier, das ich Ihnen bestimmt hatte, durchsehe, feh[l]t darin ein Blatt. – Indem ich die andern gewöhnlichen Exemplare durchsehe, sind sie halb. Ich schike daher diese Briefe an Gabler, mit dem Auftrage Ihnen das beste Exemplar zu schiken, das er noch hat. – Dieser Zufall ist mir äußerst unangenehm.
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  • Date: Samstag, 29. August 1795
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Karl Leonhard Reinhold
  • Place of Dispatch: Oßmannstedt · ·
  • Place of Destination: Kiel · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 384‒389.
Manuscript
  • Provider: Goethe- und Schiller-Archiv
Language
  • German

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