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Johann Gottlieb Fichte to Friedrich Heinrich Jacobi

Ich sende Ihnen, Verehrungswürdiger, die Fortsetzung der Grundlage der Wissenschaftslehre, und den Grundriß derselben für die Theorie.
Ich habe diesen Sommer in der Muße eines reizenden Landsitzes Ihre Schriften wieder gelesen und abermals gelesen und nochmals gelesen, und bin allenthalben, besonders in Allwill, erstaunt über die auffallende Gleichförmigkeit unsrer philosophischen Ueberzeugungen. Das Publikum wird [/] an diese Gleichförmigkeit kaum glauben; vielleicht Sie selbst nicht, scharfsichtiger Mann, dem aber hier zugemuthet würde, aus den wankenden Grundlinien des Anfangs eines Systems das ganze System zu folgern. Sie sind ja bekanntermaßen Realist, und ich bin ja wohl transcendentaler Idealist, härter als Kant es war: denn bei ihm ist doch noch ein Mannigfaltiges der Erfahrung, zwar mag Gott wissen, wie und woher, gegeben, ich aber behaupte mit dürren Worten, daß selbst dieses von uns durch ein schöpferisches Vermögen producirt werde. Erlauben Sie, daß ich noch in diesem Briefe über diesen Punkt mich mit Ihnen erkläre.
Mein absolutes Ich ist offenbar nicht das Individuum: so haben beleidigte Höflinge und ärgerliche Philosophen mich erklärt, um mir die schändliche Lehre des praktischen Egoismus anzudichten. Aber das Individuum muß aus dem absoluten Ich deducirt werden. Dazu wird die Wissenschaftslehre im Naturrecht ungesäumt schreiten. Ein endliches Wesen – läßt durch Deduction sich darthun – kann sich nur als Sinnenwesen in einer Sphäre von Sinnenwesen denken, auf deren einen Theil (die nicht anfangen können) es Kausalität hat; mit deren anderm Theile, (auf [den] es den Begriff des Subjekts überträgt), es in Wechselwirkung steht: und in sofern heißt es Individuum. (Die Bedingungen der Individualität heißen Rechte.) So gewiß es sich als Individuum setzt, so gewiß setzt es eine solche Sphäre; denn beides sind Wechselbegriffe. So wie wir uns als Individuum betrachten, und so betrachten wir uns immer im Leben – nur nicht im Philosophiren und Dichten – stehen wir auf diesem Reflexionspunkte, den ich den praktischen nenne (den vom absoluten Ich aus [den] spekulativen.) Von ihm aus ist eine Welt für uns, unabhängig von uns da, die wir nur modificiren können; von ihm aus wird das reine Ich, das uns auch auf ihm gar nicht verschwindet, außer uns gesetzt, und heißt Gott. Wie kämen wir auch sonst zu den Eigenschaften, die wir Gott zuschreiben, und [/] uns absprechen, wenn wir sie nicht doch in uns selbst fänden, und nur in einer gewissen Rücksicht (als Individuum) sie uns absprächen?
In dem Gebiete dieses praktischen Reflexionspunktes herrscht der Realismus; durch die Deduction und Anerkennung dieses Punktes von der Speculation selbst, erfolgt die gänzliche Aussöhnung der Philosophie mit dem gesunden Menschenverstände, welche die Wissenschaftslehre versprochen.
Wozu ist denn nun der spekulative Gesichtspunkt und mit ihm die ganze Philosophie, wenn sie nicht für’s Leben ist? Hätte die Menschheit von dieser verbotenen Frucht nie gekostet, so könnte sie der ganzen Philosophie entbehren. Aber es ist ihr eingepflanzt, jene Region über das Individuum hinaus, nicht blos in dem reflektirten Lichte, sondern unmittelbar erblicken zu wollen; und der erste, der eine Frage über das Daseyn Gottes erhob, durchbrach die Gränzen, erschütterte die Menschheit in ihren tiefsten Grundpfeilern, und versetzte sie in einen Streit mit sich selbst, der noch nicht beigelegt ist, und der nur durch kühnes Vorschreiten bis zum höchsten Punkte, von welchem aus der spekulative und praktische vereinigt erscheinen, beigelegt werden kann. Wir fingen an zu philosophiren aus Uebermuth, und brachten uns dadurch um unsre Unschuld; wir erblickten unsere Nacktheit, und philosophiren seitdem aus Noth für unsere Erlösung.
Aber philosophire ich nicht so treuherzig mit Ihnen, und schreibe so nachlässig, als ob ich Ihres Interesse für meine Philosophie schon ganz sicher wäre? Aufrichtig, es ahnet mir, daß ich in Voraussetzung dieses Interesse mich nicht irre.
Allwill macht den transcendentalen Idealisten, wenn sie sich nur begnügen wollen, ihre eigenen Gränzen zu decken, und dieselben recht fest machen wollen, Hoffnung zum Frieden, und sogar zu einer Art Bündniß. Ich glaube die Bedingung schon jetzt erfüllt zu haben. Wenn ich nun etwa [/] noch überdies aus dem für [feindlich] gehaltenen Lande selbst dem Realismus sein Gebiet garantirte und befestigte, so hätte ich den Rechten nach nicht blos auf eine Art von Bündniß, sondern auf ein Bündniß in aller Art zu rechnen.
Ihr
aufrichtiger Verehrer
Fichte.
Oßmannstädt b. Weimar.
d. 30. Aug. 1795.
Metadata Concerning Header
  • Date: Sonntag, 30. August 1795
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Friedrich Heinrich Jacobi ·
  • Place of Dispatch: Oßmannstedt · ·
  • Place of Destination: Altona · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 391‒393.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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