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Karl Leonhard Reinhold, Jens Baggesen to Johann Gottlieb Fichte

Ihren Brief vom 29 Aug. nebst der Fortsetzung und dem Beschluß Ihrer Wissenschaftslehre habe ich erst in den letzten Tagen des Oktobers erhalten. Empfangen Sie meinen wärmsten Dank für beydes, besonders aber für jeden Wink der mir das Studium der Wissenschaftslehre erleichtern kann, [das] mir in der That mit jedem Blatte schwerer geworden ist. Es ist gewis der größte Theil dieser Schwierigkeit bey mir subjektiv, theils in der Gewohnheit meine Begriffe auf die Ihnen bekannten für mich bis dahin letzten Punkte – Fakta des Bewußtseyn zurückzuführen, eine Fertigkeit, die mich unaufhörlich zu Erschleichungen verleitet, theils aber in dem kränklichen Zustand meines Körpers gegründet, der mich oft nöthiget jede ungewöhnliche Anstrengung zu vermeiden, und neuerlich wieder zu einer Unterbrechung selbst der kursorischen Lektüre Ihres eben so tiefsinnigen als Originalen Werkes genöthiget hat. Meine Idee vom Ganzen ist daher bis itzt noch immer viel zu unbestimmt, als [daß] sie mir irgend etwas zur Einsicht der einzelnen Theile helfen könnte.
Wie sehr dieses wahr ist mögen [Sie] aus folgenden beurtheilen. Mir ist noch immer als wenn Ihr absolutes Ich nichts anderes wäre als was ich nach meinem Versuche das reine, und durch blosse Vernunft vorgestellte Ich nennen müßte. Der Charakter des Absoluten der nach Kant, dem mein Versuch be[i]tritt[,] ursprünglich nicht[s] als die Form der Vorstellung [/] der Vernunft, oder der Idee ist, kömmt allem durch Vernunft Vorgestellten als solchen – in dem Maaße zu als es durch Vernunft vorgestellt ist – da nun das Subjekt des transcen[den]talen Bewußtseyns nicht durch den an die Sinnlichkeit |: Raum. Zeit gebundne[n] Verstand sondern nur unmittelbar durch blosse Vernunft vorgestellt ist, so kömt ihm in so ferne lediglich der Charakter des Absoluten zu. Es setzt sich also dasselbe im transcendentalen SelbstBewußtseyn freylich selbst nämlich durch seine rein vernünftige Vorstellung von sich selbst; durch welche es als Vorstellend – Subjekt als Vorgestellt — Objekt seines eigenen Bewußtseyns wird. Da das transcendentale Selbstbewußtseyn zwar von dem Empirischen verschieden, aber mit demselben verbunden, und eines die Bedingung des andern ist: So kömmt dem Subjekte des Transc. Selbstbewußtseyns das Prädikat des absoluten nur bedingt, d.h. nur in so ferne zu als es mit dem empirischen Bewußtseyn in das Verhältniß des Unterschiedes und Zusammenhangs gesetzt wird. Daher ist das reine Ich als solches in theoretischer Rücksicht überschwenglich; und seine Realität, wenn man von der Bedingung des emp. Bewußtseyns abstrahiert, Problematisch.
Das Moralische Selbstbewußtseyn allein legt dem transcendentalen Subjekte das Prädikat des absolutenunbedingt bey, in wie ferne das moralische Gesetz lediglich für die schlechthin freye folglich von allem empirischen unabhängige Handlung des Subjekts einzig gegeben ist.
Freyheit scheint mir von Ihnen von Selbstthätigkeit nicht genug unterschieden. Das Ich ist im Denken nur Selbstthätig im [/] Wollen allein frey. Die Art und Weise beym Denken selbstthätig zu seyn ist mit der Form der Vernunft und durch dieselbe gegeben. Die Art und Weise beym Wollen selbstthätig zu seyn, entweder nach der reinen Form der Vernunft oder nach der Empirischen Bedingung der Lust und Unlust giebt sich das Ich selbst und dasselbe ist nur insoferne frey als es sich die Art selbstthätig [zu] seyn selbst bestimt. Ich halte mich daher nur insoferne berechtigt das Predikat: absolutes Subjekt meinen Ich – mir Selbst – absolut – nicht blos relativ auf das im Empirischen Bewußtseyn gegebene – beyzulegen, als ich mir des Moralischen Gesetzes bewußt bin. Mir ist die moralische und unmoralische Handlung die Einzige eigentliche Thathandlung – die mir den Charakter der praktischen Vernunft und der von derselben verschiedenen Freyheit offenbart, welche letztere ich nur durch ein Postulat der Praktischen Vernunft, so wie die Praktische Vernunft nur durch das Faktum: moralisches Bewußtseyn oder: Gewissen – als real :|: nicht blos logisch :| wahr annehmen kann. – Darum habe ich bisher geglaubt, daß das reine Ich in wieferne dasselbe nicht blos Problematisch gedacht würde, aus dem moralischen Gesetze – nicht dieses aus jenem deduciert werden müßte. Auch fürchte ich noch immer, daß der wahre Sinn des moralischen Gesetzes dadurch Gefahr laufen könne, wenn man dasselbe aus dem schlechthin gesetzten absoluten Ich ableitet; nichts da<von> zu erwähnen, daß ich nicht einmal ahne wie Gott und Unsterblichkeit, deren Überzeugung für mich nichts als die [/] Überzeugung von der äusseren Möglichkeit der Beobachtung des Sittengesetzes ist, und aus der Uberzeugung von der inneren Möglichkeit oder Wirklichkeit desselben sich allein für mich ergiebt, und folglich die Religion dabey fahren werden. In Hrn Schellings Schrift stehen Äusserungen über diesen Punkt, vor denen – wenn ich mich nicht beschieden hätte, ich habe sie misverstanden, das was ich meinen Wahrheitssinn nenne, zurückgebebt haben würde. Ich mache kein Hehl daraus, [daß] ich mir die Wahrheit oder die theoretische Vernünftigkeit nur als Mittel der Moralität, oder der Praktischen Vernünftigkeit denken kann. Wie wenn das theoretische schlechthin setzen des Ichs durch sich selbst eine blosse optische täuschung der theoretischen Vernunft wäre? die sich aus der Form der Vorstellung der Vernunft – dem Absoluten gar wohl begreifen liesse – das theoretisch gesetzte Absolute – das theoretisch nur relativ gesetzt ist – würde für absout gesetzt an gesehen – um so leichter da dieses im moralischen Bewußtseyn wirklich und mit Recht geschieht. – Allein ich bescheide mich gerne, daß ich bis itzt nur noch wie der blinde von der Farbe über Ihr System sprechen kann. Die von mir selbst anerkannten Mängel meines eigenen, machen mich um so geneigter das Ihrige wahr zu finden, da ich bey meinen Gesundheitumständen zweifeln muß ob ich je jenen Mängel abhelfen können würde, wenn auch nicht etwa das ganze System ein Fehler wäre. Ich glaube, daß Sie besser als Ihr System sind, und hoffe dasselbe von mir – Haben Sie noch ferner Geduld mit mir, und setzen unsren, diesesmal ohne meine Schuld unterbrochenen Briefwechsel, nach ihrer Bequemlichkeit fort. – Die Beylage bitte ich als eine Probe meiner Liebe und Verehrung für Sie anzusehen
Ihr Reinhold
[Baggesen:] Zum ersten mahl, liebster Fichte, kann ich, nach einer 10wochigen Krankheit die Feder führen. Ihren Brief von August erhielt ich erst Ende Novembers. Ich bin noch zu schwach, um einem Manne zu schreiben, dessen Geist und Herzen ich nichts ganz triviales mittheilen möchte. Für jezt also nur meinen herzlichen Gruß.
Baggesen
Metadata Concerning Header
  • Date: Dezember 1795
  • Sender: Karl Leonhard Reinhold, Jens Baggesen
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Kiel · ·
  • Place of Destination: Jena · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 2: Briefe 1793‒1795. Hg. v. Hans Jacob und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Hans Gliwitzky und Manfred Zahn. Stuttgart 1970, S. 437‒439.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: B 132
Language
  • German

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