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Johann Gottlieb Fichte to Karl Leonhard Reinhold

Jena, d. 27. August. 1796.
Ob ich gleich Ihren lezten Brief nicht auf der Stelle beantwortet, so kann ich doch auf mein Gewissen versichern, daß diese Stunde, in der ich Ihnen schreibe, die erste freie Stunde ist, seitdem ich ihn erhalten habe.
Ihre Erzählung rechtfertigt Sie bei mir vollkommen, und aus dem Grunde. Ueber die mir mitgetheilte Strophe von Baggesen habe ich herzlich gelacht, und freue mich auf das Ganze.
Sie haben mir die Anfrage nicht verargt; und ich mag die Sache ansehen, wie ich will, so kann ich selbst sie mir auch nicht verargen. Aber, daß ich sie nicht eher gethan, verargen Sie mir gar sehr: entschuldigen es jedoch mit meiner Lage. Erlauben Sie, daß ich über eine ganz andere Lage, als Sie vorauszusetzen scheinen, mich offenherzig mit Ihnen erkläre. – Ich lese des Tags 3. Collegien: eins über eine mir ganz neue Wissenschaft, wo ich das System erst aufbaue, indem ich es darstelle; zwei, die ich schon gelesen, die ich aber bearbeite, als ob ich sie nie bearbeitet hätte. Ich habe sonach täglich drei Collegien auszuarbeiten, und zu lesen: ich, der ich nicht die gröste Leichtigkeit habe, meine Gedanken bis zur Darstellung zu verdeutlichen. Dies dauret 5. Tage. Die übrigen zwei bedarf ich nur zu nöthig, um einen allgemeinen Ueberblik zu thun, was ich in der nächsten Woche zu bearbeiten haben werde. Urtheilen Sie, wie viel mir Zeit übrig bleiben möge, an irgend etwas, das mir nicht unmittelbar gegenwärtig ist, sehr lebhaften Antheil zu nehmen; wie abgemattet ich seyn möge, wenn mein Tagwerk nun endlich geschlossen ist, das mit Anbruch des andern [Tages] wieder anheben wird, wie ich dann alles, was noch ausserdem auf mir liegt, mir aus dem Sinne schlage, und von der Hand weise. Ich könnte Ihnen scherzhafte Beispiele davon anführen. Die reine Wahrheit ist, daß ich es aufschob, Ihnen zu schreiben, weil ich es schon so lange auf geschoben hatte; daß ich an das unvorteilhafte, was man mir von Ihnen beigebracht, nicht dachte, weil ich nicht Zeit dazu hatte; daß ich es so gut, als vergessen hatte, als ich durch einen Brief wieder daran erinnert wurde, und auf der Stelle beschloß, der Sache von der einen Seite, oder von der andern, ein Ende zu machen.
So träge, so vergeßlich, und, wenn Sie wollen, so untheilnehmend [/] für alles, was mir nicht unmittelbar gegenwärtig ist, mich diese Lage machen kann, deren Endschaft ich mit jedem halben Jahre hoffe, und bis jezt vergebens hoffe: so soll doch weder sie, noch irgend eine andere mich verdrießlich, übellaunig, bösartig, und dadurch ungerecht machen. Dafür kann ich einstehn, ohne vermessen zu seyn: denn der Grund liegt in meinem Temperamente. Wenn etwa meine auswärtigen Freunde mich bemitleiden über den vielen Verdruß, über die bittern Stunden, die ich verleben mag, so bin ich ihnen für ihren guten Willen sehr verbunden, aber er ist übel verwendet. Ich bin gesund, kann essen, trinken, und schlafen, habe eine wakre Frau und vor einigen Wochen ist mir ein muntrer gesunder Junge gebohren – ich sehe in meinem nächsten Zirkel, daß ich nicht vergebens arbeite; während der Vorlesungen lege ich die plumpen Angriffe auf mich bei Seite, und wenn ich in den Ferien Zeit finde, sie zu beherzigen, so lache ich bei dieser Arbeit mich für das ganze künftige Halbjahr gesund. Man kann mir unangenehme Minuten machen; aber den, der es zu einer unangenehmen Viertelstunde brächte, soll ich noch sehen.
Des Mistrauens, ohne äussere Veranlassung, und der Feindseeligkeit ist mein Herz schlechthin unfähig – aber ein Vertrauen, das ohne weiteres, alle Schwachheiten, und Schiefheiten, die man mir von andern erzählt, abwiese, setze ich in sehr wenig Menschen. Ich glaube das Nachtheilige nun eben nicht; aber ich lasse es an seinen Ort gestellt seyn.
Was unser gegenseitiges Verhältniß betrift – Lieber, wir kennen uns nicht, und es ist besser, daß wir uns dies gegenseitig bekennen. Was wir bisher unmittelbar mit einander abzuthun gehabt, sollte uns darüber sattsam belehrt haben. Woher sollten wir uns auch kennen? Das Zeugniß gemeinschaftlicher Freunde giebt ein gutes Vorurtheil; aber es giebt nicht Beifall des Herzens.
Gott ist mein Zeuge, daß ich nichts gegen Sie habe, daß ich herzlich wünsche, Sie kennen, und lieben zu lernen, und daß ich eben so herzlich wünsche, daß Sie mich, nach Bekanntschaft mit meinem Charakter, lieben lernen möchten: aber dazu würde es persönlicher, etwas längerer Bekanntschaft bedürfen, für welche ich ein beträchtliches aufopfern wollte.
Ueber Ihren Vorschlag, zu einem Einverständnisse pp der mit diesem Mangel des Verhältnisses nichts zu thun hat, sondern ein Verhältniß rechtlicher Männer überhaupt ist, werde ich Ihnen in den nächsten Ferien schreiben. Darauf haben auch Ihre übrigen Freunde, so viel ich [/] weiß, die Beantwortung verschoben; weil sie, besonders Paulus, so ziemlich in derselben Lage sind, in der ich bin.
Ich empfehle mich Ihrem Wohlwollen, und bin mit wahrer Hochachtung für Ihre Verdienste, und Ihren Charakter
Ihr
ergebenster
Fichte
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 27. August 1796
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Karl Leonhard Reinhold
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Kiel · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 3: Briefe 1796‒1799. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1972, S. 33‒35.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

Weitere Infos ·