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Johann Smidt to Johann Gottlieb Fichte

Ihr gütiger Brief lieber H Professor den ich so eben wieder durchgelesen hat mich beym ersten Anblik ein wenig erschreckt – Ich kann es mir selbst kaum verzeihen daß ich seine Beantwortung über 2 Monate verzögerte und wenn ich bedenke, daß statt der vielen positiven Bestimmungen wodurch jene beyden Monate bey mir haften – bey Ihnen in Hinsicht meiner nur ein negatives Merkmal da ist – so hätte ich wohl alle Ursache mich für die Erneuerung meiner Existenz bey Ihnen wieder angelegentlichst zu verwenden. – (ein wenig besorgt zu seyn.) – Indeß habe ich durch Ihre Güte selbst einen Advokaten erhalten, und dies macht mich so muthig, daß ich Dreistigkeit genug habe – in diesem Falle sogleich zu seiner Fürsprache meine Zuflucht zu nehmen – Der Kleine Im H läßt seinen Pathen gewiß nicht im Stich – und wenn er Sie bisher auch nicht an mich erinnert hätte so sehen Sie ihn jetzt nur einmal an – denn wenn er nur im mindesten etwas von der Freude geahnt hat, die mir jener neue Beweis der unvergeßlichen Freundschaft seiner Eltern gegen mich, verursachte – so wird er gewiß in seinem kindlichen Lächlen oder durch eine sonstige beredtsame Mine etwas wissen das für mich spricht.
Sie fragen ob ich seit dem Jahr wo ich von Ihnen entfernt lebte studire? – Auf welche Art ich mich auszubilden suchte, kann ich Ihnen schreiben – aber studiren zu können wurde mir wenig vergönnt. Der Dämon, der seit der Dresdner Reise meine Augen zu seinem Sitz erkohren wollte auch den ausgesuchtesten Bannungsmitteln nicht gehorchen – erst seit August bin ich ganz davon befreyt. Oft zeigte sich einiger Anschein von Besserung, aber wenn ich im Taumel der Freude darüber mich meiner Lieblingsbeschäftigung auch nur einige Tage wieder unbedingt überließ, so war alles wieder beym Alten und ich mußte momentanen Genuß durch langes Entbehren desto schmerzlicher büssen – Nicht 3 Bücher habe [/] ich in der ganzen Zeit durchlesen können, auch Schreiben wurde mir schwer – mehr als einen Brief, den ich von meinen Freunden erhielt, konnte ich erst den 2 od 3ten Tag nach dem Empfang völlig zu Ende lesen. Sie können denken, was ich dabey leiden mußte – Und vielleicht ging es mir noch so, wären nicht der Tod meines Vaters der diesen Sommer erfolgte u mich in mancherley kleine Geschäfte verwickelte, ein 3 wöchentlicher Besuch von Horn u Spiegel u eine Reise nach Hamburg = bald auf einander folgende Mittel gewesen die mich von allem Lesen zurückhielten u meinen Augen die Ruhe verschaffen unter der ihre Kraft allein wieder zurückzukehren im Stande war – Meine Mutter ist nachdem wieder krank geworden, – u mein otium ph ist dadurch aufs neue von einer gewissen Seite gestört – ich muß mich um manche Sachen bekümmern – die ich sonst ihren Gang gehen ließ – muß manche Kleinigkeiten lernen ohne die ich sonst fertig werden konnte, weil meine Eltern für mich sorgten. Nehmen Sie hierzu noch das mit der Möglichkeit des Gebrauchs meiner Augen um so <dringender> aufgeregte Bedürfniß auch der literarischen Welt wieder anzugehören u Sie werden einsehen daß ich in einem Zustande lebe, wo ich jeden Tag wie Josua der Sonne stillzustehen gebieten mögte –
Indeß bin ich doch während dieser Zeit nicht so müßig gewesen wie es Ihnen jetzt beym ersten Anblick scheinen dürfte – Ich habe während jener traurigen Augenkrankheit dennoch immer heilen Muth behalten – und schon daraus daß [/] ich das konnte werden Sie schließen können daß ich nicht unthätig gewesen bin. – Ich habe manches Schwankende bey mir berichtigt u vorzüglich auf die Ausbildung meines Charakters mehr Sorgfalt verwandt um manche Unebenheiten wegzuräumen die mir bey einer künftigen <Wirksamkeit> im Wege stehen könnten – Wenn ich während der Zeit (weniger Kenntnisse ergriffen habe) – so glaube ich dennoch an <Mobilität> gewonnen zu haben, um künftig [...]
Ich habe seitdem ich hier bin wenig Philos im eigentlichen Sinn studirt, aber dennoch glaube [ich] nicht dadurch zurückgekommen zu seyn sondern erwarte von dieser Muße vielmehr im künftigen eine desto vollständigere Befriedigung meines immer dringender werdenden Bedürfnißes für diese Wissenschaft. Ich will Ihnen erzählen, wie ich das meine[:] Nach meiner Überzeugung wird zum philos: Genie nicht bloß Gewandtheit des Geistes erfordert, nicht bloß Fähigkeit zu reflectiren u zu abstrahiren wie u wo man will – sondern auch vor allem etwas was ich ein Ahnungsgenie der Wahrheit nennen mögte – u dies wird durch den Umfang durch die Nachhaltigkeit der Phantasie bestimmt, eingeengt oder erweitert – Was noch nicht aus unserm absoluten Ich hervorgerufen, was noch nicht bey uns zur Sprache gekommen ist – bringen wir auch nicht mit in die Einheit, u so ist oft ein fehlendes Rad an der Mangelhaftigkeit des ganzen Gebäudes Schuld. – Es ist wahr man wird a priori auf hundert Fragen geführt – aber sollte nicht Einseitigkeit der Cultur diesen Fragen unvermerkt eine schiefe Richtung geben können? Sollte die Richtigkeit ihrer Beantwortung nicht durch die Lebendigkeit des ganzen Menschen bestimmt werden? [/] Ich wenigstens fühlte hier eine Lücke – ich hatte die größten Genies durch Einseitigkeit fallen sehen – ich wußte aus eigener Erfahrung wie leicht es ist, in elende Buchstabeley zu verfallen – wenn man Ideen in die Harmonie seines Wissens bringen will, die nur erst blaß im Gedächtniße haften – ehe eigner lebendiger Drang sie uns erkennen u zu unserm Eigenthum bilden half, ehe die Fülle desselben uns gleichsam überwältigte u nöthigte immer jene Einheit zu suchen – Nach dieser Ansicht der Cultur der vollstimmigen Menschheit als Propädeutik der Philos: habe ich meine bisherige Lebensart einzurichten versucht, – wobey ich zugleich nicht vergaß mich auf die individuelle Art des Eingreifens in den <Wirkungskreis> der menschlichen Gesellschaft wo zu ich mich bestimmt habe vorzubereiten. – Mein Augenübel trieb mich mehr unter Menschen, wie das bisher je mit mir der Fall gewesen war – ich suchte mir unter allen Classen u Ständen einige der Vorzüglichsten aus und es gelang mir bald sie dahin zu bringen daß sie gegen mich den conventionellen Firniß ablegten der ihre Menschheit verhüllte. Im Umgang mit ihnen – bemühte ich mich jedem Eindruck dessen ich mich selbst nicht schämen durfte – meine Empfindung offen zu halten – u von allen Seiten wo ich mir selbst bekannt worden war, etwas correspondirendes bey ihnen zu suchen – Eine Menge verschiedener Ansichten u Dinge sind mir dadurch aufgegangen – aber doch glaube ich auch bey der unpartheyisch[s]ten Prüfung mir dennoch gestehen zu dürfen daß ich an Energie des Charakters dadurch nichts eingebüßt habe. Mein Ziel ist ein nil admir: das aber [. . .]
Metadata Concerning Header
  • Date: nach dem 11. Dezember 1796
  • Sender: Johann Smidt
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Bremen · ·
  • Place of Destination: Jena · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 3: Briefe 1796‒1799. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1972, S. 43‒46.
Manuscript
  • Provider: Deutsches Zentralarchiv
Language
  • German

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