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Johann Gottlieb Fichte to Karl Leonhard Reinhold

Jena den 21. März 1797.
Ihr letzter Brief ist mir darum nicht weniger merkwürdig und erfreulich, weil ich einige Wochen habe vergehen lassen, ohne ihn zu beantworten. Ich habe oft im buchstäblichen Sinne des Wortes in mehren Wochen nicht die Zeit, einen Brief zu schreiben.
Nachdem Sie in die Wissenschaftslehre wirklich eingedrungen sind, ist Ihnen unter andern auch das nicht mehr denkbar, daß Jemand auf die Entdeckung der darin gewonnenen Ansicht eitel seyn und seinem unbedeutenden Individuum etwas Besonderes zueignen sollte, was reines Eigenthum der gesammten Welt ist und lediglich durch einen glücklichen Blick gefunden wird. Ich habe sonach mit Ihnen, als einen Eingeweihten, unter andern auch den Vortheil, daß ich ohne den Firniß einer affektirten Bescheidenheit mit Ihnen sprechen kann. [/]
Daß Sie wirklich eingedrungen sind, beweist mir theils die Erzählung, wie es zugegangen (durch bloßes Studiren der todten Buchstaben wird wohl Niemand diese Lehre fassen; sie muß durch ein inneres Bedürfniß aus ihm selbst herausgetrieben werden); theils Ihre richtige Ansicht Ihres ehemaligen Systems, dessen böser Schaden allerdings der gegebene Stoff war. Ich statte Ihnen dazu den feurigsten Glückwunsch ab, theils um der Gemüthsstimmung willen, die diese Einsicht bei sich führt, der unerschütterlichen Ruhe, des festen Blicks in das Gewühl alles menschlichen Meinens und Treibens, die Ihnen von Stund an zu Theil werden mußten; theils wegen des Charakters, den Sie schon haben mußten, und den Sie dadurch sich selbst und Jedem, der Etwas von der Sache versteht, demonstrirt haben. Ich darf es Ihnen nämlich jetzt, da mein Bekenntniß zugleich das des Irrthums bei sich führt, vielleicht wohl bekennen, daß ich nicht geglaubt, daß Sie sich dieser Lehre bemächtigen würden. Ich traue keinem Menschen die Verkehrtheit zu, daß er sich der erkannten Wahrheit hartnäckig verweigern werde; aber das traue ich so ziemlich Allen zu, bis von Einem das Gegentheil erwiesen ist, daß vorgefaßte Meinungen, Eigenliebe und Rechthaberei, ohne daß sie es selbst wissen, sie an der Erkenntniß der nicht von ihnen selbst gefundenen Wahrheit, der ihren Behauptungen entgegenstehenden Wahrheit, verhindern werden. Ich hielt Sie gewiß für einen der besten Menschen unter unsern Gelehrten; aber die Unbefangenheit, die nicht willkührliche, sondern inniges Bestandtheil des schon erworbenen Charakters ausmachende Wahrheitsliebe, die dazu gehört, um sich aus einem Irrthume, in welchen man sich mit seltner Energie hineingearbeitet hat, herauszufinden, erwartete ich nicht. Erhalten Sie jetzt dafür das Geständniß meiner wärmsten Hochachtung und Bewunderung.
Daß die Denkart der Wissenschaftslehre viele Anhänger unter unsern Zeitgenossen, von denen ich nicht umhin kann, ein wenig klein zu denken, finden werde, darauf habe ich nie [/] gerechnet. Ich hoffte nur, die Menschen auf den Weg zu führen, bis etwa in einem glücklichern Zeitalter längst nach meinem Tode vollendet würde, was ich angefangen. Wenn aber Männer, wie Sie, für den gleichen Zweck arbeiten, so kann ein großes Stück Weges gemacht werden.
Ich habe Hufeland sogleich nach Erhaltung Ihres Briefes wegen der Recension der W. L. in der A. L. Z. gesprochen. Er sagte mir, sie sey vergeben, er hoffe aber sicher, daß der bestimmte Rec. sie abgeben würde; er wolle auf der Stelle an ihn schreiben, und falls die Antwort nach Erwartung ausfalle, es Ihnen selbst berichten. Ich habe seitdem nicht wieder nachgefragt.
Meine Theorie ist auf unendlich mannigfaltige Art vorzutragen. Jeder wird sie anders denken, und anders denken müssen[,] um sie selbst [/] zu denken. Je mehrere ihre Ansicht derselben vortragen werden, desto mehr wird ihre Verbreitung gewinnen. Ihre eigne Ansicht[,] sagte ich: denn das Gerede, [das] hier und da über Ich, und Nicht=Ich, und Ichenwelt, und Gott weiß wovon noch, sich erhebt, hat mich herzlich schlecht erbaut. Es würde mich sehr freuen, und vielen Nutzen stiften, wenn auch Sie Ihre Ansicht bekannt machten, bei dem außerordentlich pünktlichen Gange der Analyse, den Sie in der Gewalt haben.
Über meine bisherige Darstellung urtheilen Sie viel zu gütig; oder der Inhalt hat Sie die Mängel der Darstellung übersehen lassen. Ich halte sie für äußerst unvollkommen. Es sprühen Geistesfunken daraus; das weiß ich wohl: aber es ist nicht Eine Flamme. Ich habe sie diesen Winter für mein Auditorium, das zahlreich ist, und in welchem ich von Zeit zu Zeit gute Köpfe bemerkt habe, von denen ich viel hoffe, ganz umgearbeitet; so als ob ich sie nie bearbeitet hätte, und von der alten nichts wüßte. Ich lasse diese Bearbeitung in unserem Phil. Journal abdrucken (versteht sich wieder von neuen aus den Heften bearbeitet). Wie oft werde ich sie noch bearbeiten! Für Ermangelung der Pünktlichkeit hat die Natur durch Mannigfaltigkeit der Ansicht, und ziemliche Leichtigkeit des Geistes mich schadlos halten wollen.
„Mein Ton trifft und verwundet Personen, denen er nicht gilt“ sagen Sie. Das bedauere ich aufrichtig. Aber er gilt ihnen denn doch gewissermaßen, wenn sie sich nicht aufrichtig sagen lassen wollen, in welchen schlimmen Irrthümern sie sich herumtreiben, und nicht für sehr wichtige Belehrung eine kleine Beschämung fürlieb nehmen wollen. Wem Wahrheit nicht über alles, auch über sein kleines Individuum geht, mit dem kann die W. L. ohnedies nichts anfangen. Der innere Grund dieses Tones ist der. Es erfüllt mich mit einer Nichtachtung, die ich nicht beschreiben kann, wenn ich den Verlust des Wahrheitssinnes, die tiefe Verfinsterung, Verwirrung, und Verkehrtheit, die jetzt herrschend sind, so mit ansehen muß. Der äußere Grund ist der. Wie haben diese Menschen mich behandelt, und wie fahren sie fort, mich zu behandeln! Ich hatte zu nichts weniger Lust, als zu Polemik. Warum könnten sie doch gar nicht Ruhe halten? Z. B. Freund Schmid. Ich habe ihn allerdings nicht sanft behandelt. Aber jeder billige, der noch vieles andere weiß, was nicht für’s Publikum gehört, wird mir Engelsgeduld zuschreiben.
Haben wir nicht von Ihnen etwas für unser Journal zu erwarten? – Im ersten Hefte desselben, dessen Umdruck morgen vollendet sein wird, [/] habe ich Ihrer gedacht. Diese Stelle ist geschrieben, und abgedruckt, ehe ich Ihren letzten Brief erhielt. Für den Umdruck konnte ich sie nicht füglich ändern; da sie in dem ersten Abdrucke, der doch dann wohl auch unter die Leute kommt, steht. Allerdings gehört nicht nothwendig Beisammenleben zur Freundschaft. Ich ehre, und liebe Sie, weil ich Sie jetzt ganz kenne: doch wünschte ich sehnlich, daß wir uns einst irgendwo träfen.
In herzlichster Freundschaft
ganz der Ihrige
Fichte.
Metadata Concerning Header
  • Date: Dienstag, 21. März 1797
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Karl Leonhard Reinhold
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Kiel · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 3: Briefe 1796‒1799. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1972, S. 56‒58.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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