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Johann Gottlieb Fichte to Johann Jakob Wagner

Jena, d. 3. Oktobr. 97.
Nun haben Sie sich mir gezeigt: es ist Ihnen Ernst um Ihre Bildung, und Sie geben der Wahrheit Raum. Ihr Charakter verdient meine Hochachtung, und ich nehme von diesem Augenblicke an den zärtlichsten Antheil an Ihren Schiksaalen.
Einer Hofmeisterstelle, als des einzigen Auswegs aus Ihrer Lage hatten Sie selbst in Ihrem vorherigen Briefe gedacht. Den Hauptvortheil derselben bestimmen Sie selbst sehr richtig; „mit Kindern Ihre Begriffe entwikeln zu lernen, und auch wieder einmal im Schoosse einer Familie zu leben.[“]Sie fürchten den Zeitverlust. Glauben Sie mir, wer bis in die Tiefe seines Wesens sich bilden, wer seyn will, und nicht bloß scheinen, dessen Hauptsache ist’s, mit Gewinn Zeit zu verlieren. Es ist nicht, daß die Bildung uns angeworfen werde, wie ein Mantel; sie muß sich in uns hinein organisiren, und dies erfodert Zeit, und einen natürlichen, d. i. freien u. unberechneten Gang.
Daß nur nicht Ihre Geliebte – keinesweges Mädgen – die Hauptursache sey, daß Sie Zeitverlust fürchten. Darf ich auch darüber meines Herzensmeinung Ihnen ganz eröfnen? – Als Sie zuerst mündlich dieses Umstandes gegen mich erwähnten, hatte ich dazu kein Recht. [/] Jezt haben Sie um meine Freundschaft mich ersucht, und ich habe sie Ihnen gegeben, und habe nun dieses Recht – Wenn es so wäre, daß der Jüngling, wie er mannbar wird, die Jungfrau, die ihm gefällt, heimführen könnte in sein Haus, so wäre es, wie es seyn sollte. Es ist gegenwärtig nicht so, und dies ist nicht gut. Weit weniger gut aber ist, daß noch obenein Jünglinge und Jungfrauen sich gegenseitig das Leben verbittern durch zu frühzeitige Verlobung; und dies hat nicht einmal irgend ein Fehler unsrer Natur eingeführt, sondern eine durch verderbliche Romane, nach denen Liebelei – Tugend, und kein Jüngling ein ganzer Kerl ist, der nicht auch – sein Mädgen hat, verleitete Einbildung. Nach meiner Meinung sollte kein Jüngling eine Jungfrau um Liebe bitten, der nicht, im Fall sie ihm dieselbe zusagt, gleich den Hochzeitstag ansetzen, und zum Prediger gehen kann, das Aufgebot zu bestellen.
Aber Sie haben in guter Gesellschaft geirrt, und was geschehen ist, ist geschehen. Derjenige der über vergangne Dinge Vorwürfe mache, bin ich nicht; denn diese lassen sich nicht ändern. Jezt ist die Frage von den Folgen. – Sie scheinen zu sagen, daß Sie das Recht haben einen vernünftigen Willen bei Ihrer Geliebten vorauszusetzen, und in dieser Voraussetzung einseitig Ihre Maasregeln zu nehmen. Ma[/]chen Sie das selbst vor Ihrem Gewissen aus, ob Sie dieses Recht haben; ich würde es mir nicht zuschreiben. Sie können, glaube ich, nicht eigenmächtig zwei Willen trennen, die Ein Wille wurden. Können Sie Ihr Wort nicht zurükerhalten, so müssen Sie für Ihre jugendliche Uebereilung schreiben, was Ihre gegenwärtigen Gönner wollen, daß Sie schreiben möchten, reden, was diese gern hören, vor ihnen kriechen, u. s. f. wie es, nach einer ganz neuen Probe, die ich gesehen habe, die Göttingischen Aspiranten machen; damit Sie recht bald eine ärmliche Professur erhalten: den Trieb nach Ganzheit aber und Vollendung in Ihrer Brust rathe ich Ihnen recht schnell zu unterdrüken, denn er würde Ihnen sehr lästig werden.
Wohl aber haben Sie unstreitig das Recht, zu versuchen, ob nicht etwa Ihre Geliebte einen vernünftigen Willen habe, und ihr unablässig zuzureden, daß sie ihn vernünftig mache. Der vernünftige Wille aber ist, glaube ich der: Sie entbinden Ihre Geliebte ihres Worts; und diese nimmt diese Entbindung an, betrachtet sich als frei, und sezt sich in die Lage, anderweitige Anwerbungen erhalten zu können: Sie selbst für Ihre Person bleiben, so lange Ihre Geliebte unverheirathet ist, gebunden, und wenn, nachdem Sie eine Frau haben können, Ihre Geliebte noch unverheirathet ist, ist sie Ihre Gattin. Der Grund dieser nothwendigen Ungleichheit ist der: Ihre Geliebte kann, [/] wenn sie Sie verloren hat, nicht werben; Sie aber können es, wenn Sie dieselbe verloren haben. – Welche Delikatesse die weibliche Empfindung, welches Maaß derselben insbesondere Ihre Geliebte bedürfe, wissen Sie wohl selbst. – Die Allmacht Ihrer Liebe werden Sie mir wohl nicht vorschützen; oder Sie wären nicht der für den ich Sie halte. Die männliche Liebe ausser dem wirklichen ehelichen Leben ist ohne dies mehr Einbildung; und, wie dies auch sey unter der Oberherrschaft der Vernunft steht die Liebe garnicht weniger, als andere Empfindungen
Ueber die Wahl einer Stelle später unten, nachdem ich noch eines Umstandes in Ihrem Briefe werde erwähnt haben. – Es ist mir schon – nemlich später, als ich Ihnen meinen lezten Brief schrieb – geäussert worden, daß Sie in Göttingen nicht aufkommen würden. Jezt ist mir alles klar. Trauen Sie sich’s zu, durchzudringen, so thun Sie es. Beschämen Sie die Cabalenmacher. Ihnen wird dies ein heilsames Vertrauen auf sich selbst für [Ihr] ganzes Leben, und jenen eine recht nüzliche Lection geben. Sie wissen es ja voraus, u. dies ist ein grosser Vortheil. – Bleiben Sie dann den Winter in Göttingen. Sie sind ja im Seminario, Sie haben Freitisch, u. Stipendium. Die Privatcollegien werden Sie unter den gegenwärtigen Aspekten wohl ohnedies nicht zu Stande bringen. Arbeiten Sie für sich zur eignen Vervollkommnung. [/]
Und jezt zu meinem Vorschlage. Wenn Sie nichts besseres wissen, so kommen Sie Ostern k. J. gerade zu mir selbst. Mein Knabe wird zwar dann erst 7/4 Jahr alt seyn; um daher das Befremdende dieses Antrags zu mildern, muß ich Ihnen vorläufig einige meiner Erziehungsmaximen mittheilen.
Meine Hauptregel ist, daß das Kind bei’m ersten Erwachen seiner Vernunft gleich als völlig vernünftig behandelt werde; daher unablässig in verständiger, u. gesezter Gesellschaft sey, die sich mit ihm unterhalte, als ob er selbst verständig sey. So wird er es. Dann, daß er zuerst mit der reellen Welt bekannt gemacht werde, ehe er in die trokenste aller Zeichenwelten, in die des todten Buchstabens, eingeführt werde: dann, daß er diese Bekanntschaft auf die einig fruchtbare Weise mache, auf die praktische. Mein Knabe soll vor allen Dingen die Welt die ihn umgiebt, nach Zeichen, und Gebrauch kennen; und mit den Dingen alles machen, was sich mit ihnen machen läßt. Dies Geschäft anzufangen ist das Kind reif, sobald es gehen, und einige articulierte Töne, als Zeichen bestimmter Gegenstände, aussprechen kann. Dies wird, rechne ich, mein Knabe dann können. Wollen Sie diesen Knaben in’s Leben einführen; – und dabei sich selbst? (Göthe sagt darüber in Meisters Lehrjahren ein sehr wahres Wort, das Ihnen vielleicht nicht entgangen ist) [/] Ich würde Ihnen nicht, u. keinem Menschen dieses Geschäft abtreten, wenn ich, u. mein Weib, und der Knabe selbst, davon leben könnten.
Schreiben Sie mir hierüber Ihre Gedanken, und ich theile Ihnen dann meine bestimmteren Gedanken über meinen Erziehungsplan mit, über welchen wir vorher völlig einverstanden seyn müssen. Ueber die äussern Bedingungen werden wir hoffentlich am leichtesten einig werden; denn Sie werden nicht mehr wünschen, als Sie bedürfen, und ich werde dies nicht verweigern. Nur dies habe ich noch zu erinnern: durch dieses Geschäft bei mir würden Sie nicht auf längere Zeit gebunden, als Ihre Lust, und Laune Sie hielte; denn Veränderung des Leiters ist gar nicht gegen meinen Plan.
Ich drüke Ihnen im Geiste die Hand.
Fichte
Metadata Concerning Header
  • Date: Dienstag, 3. Oktober 1797
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Johann Jakob Wagner ·
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Göttingen · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 3: Briefe 1796‒1799. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1972, S. 84‒86.
Manuscript
  • Provider: Haus der Stadtgeschichte - Stadtarchiv Ulm
Language
  • German

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