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Johann Gottlieb Fichte to Immanuel Kant

Verehrungswürdiger Freund, und Lehrer,
Meinen innigsten Dank für Ihr gütiges Schreiben, welches meinem Herzen wohlthätig war. Meine Verehrung für Sie ist zu groß, als daß ich Ihnen irgend etwas übel nehmen könnte; und noch dazu etwas so leicht zu erklärendes, als Ihre verzögerte Antwort: aber es würde mich betrübt haben, Ihre gute Meinung, die ich mir erworben zu haben glaubte, wieder verloren zu haben. Ich lebe im Mittelpunkte der litterarischen Anekdotenjägerei, und Klätscherei; (ich meine damit nicht sowohl unser Jena; denn hier haben wir gröstentheils ernsthaftere Beschäftigungen, als den ganzen Umkreis, der uns umgiebt) und hatte seit Jahren mancherlei hören müßen. [/]
Ich kann mir sehr wohl denken, wie man endlich der Speculation satt werden müße. Sie ist nicht die natürliche Atmosphäre des Menschen; sie ist nicht Zweck, sondern Mittel. Wer den Zweck, die völlige Ausbildung seines Geistes, die vollkommne Uebereinstimmung mit sich selbst, erreicht hat, der läßt das Mittel liegen. Dies ist [Ihr] Zustand, Verehrungswürdiger Greis.
Da Sie selbst sagen, daß „Sie die Subtilität der theoretischen Speculation, besonders was ihre neuere äußerst zugespizte Apices betrift, gern andern überlaßen“ so bin ich desto ruhiger wegen der misbilligenden Urtheile über mein System, welche fast jeder, der sich zu dem zahlreichen Heere der deutschen Philosophen rechnet, von Ihnen in den Händen zu haben vorgiebt; wie denn noch ganz neuerlich Hrr. Bouterweck, der [/] genügsame Recensent Ihrer Rechtslehre, und der Reinholdischen Vermischten Schriften, in den Göttingischen Anzeigen, ein solches von Ihnen erhalten haben will; wie ich durch den Kanal meiner Zuhörer vernehme. – Dies ist nun so die Welt, in der ich lebe.
Es gereicht mir zum lebhaftesten Vergnügen, daß meine Darstellung Ihren Beifall findet. Ich glaube es nicht zu verdienen, wenn derselbe Bouterweck sie für barbarisch (in den Göttingschen Anzeigen) ausschreit. Ich schätze das Verdienst der Darstellung sehr hoch, und ich bin mir einer großen Sorgfalt bewußt, die ich sehr früh angewendet, um eine Fertigkeit darin zu erhalten; und werde nie ablaßen, da wo es die Sache erlaubt, Fleiß auf sie zu wenden. Deswegen aber denke ich doch noch gar nicht daran, der Scholastik den Abschied zu geben. Ich treibe sie mit Lust, und Leichtigkeit, und sie stärkt, und erhöht meine Kraft. [/] Ueberdies habe ich ein beträchtliches Feld derselben bisher bloß im Vorbeigehen berührt, aber noch nicht mit Vorsaz durchmeßen: das der Geschmaks-Kritik.
Mit innigster Verehrung
Ihr
ergebenster
Fichte.
Jena, d. 1. Jänner 1798.
Metadata Concerning Header
  • Date: Montag, 1. Januar 1798
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Immanuel Kant ·
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Königsberg · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 3: Briefe 1796‒1799. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1972, S. 104‒105.
Manuscript
  • Provider: Universitätsbibliothek Leipzig
Language
  • German

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