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Johann Gottlieb Fichte an Johann Jakob Wagner

Jena, d. 2. Jänner. 1798.
Ueber mein diesmaliges langes [Stillschweigen], mein werthgeschäzter Herr, u. Freund, mögen Sie mich entschuldigen. Ich kann in der Regel nur in den Ferien Briefe schreiben; u. diesmal besonders trat die nur zu strenge Gültigkeit dieser Regel ein.
Wegen der Ankunft nach Jena, und was darauf Beziehung hat, schreibe ich vor Ostern, zu rechter Zeit, noch einmal; darüber also für heute kein Wort.
Daß die Göttinger Studenten auch selbst nicht einmal neugierig sind, um ein Ihnen dargebotnes collegium publicum auch nur um des willen zu besuchen – diesen gänzlichen Mangel an Reizbarkeit hätte ich ihnen doch nicht zugetraut.
Forberg ist ein witziger, thätiger Kopf: aber es fehlt [/] ihm bis jezt gänzlich an Festigkeit, u. Fleiß. Ich glaube, daß dieser Mangel so tief liegt, als er liegen kann; daß es ihm ganz u. gar an Charakter fehlt.
Berger hat Ihnen wohl selbst in dem, das Ihnen nicht ganz gefiel, geheuchelt. Er hat mich in den Michaelisferien in Jena besucht, und wir haben uns gegenseitig schreklich misfallen. Die gute Wendung, die er in Jena genommen hatte, ist rein ausgetilgt; dagegen die schlimme, die er von Wittenberg mit brachte, durch Göttingen zu einem sehr hohen Grade vermehrt worden. Er windbeutelt, thut vornehm; u. hat mir sogar unter die Augen behauptet: Ueberzeugungen, die man nicht habe, zu heucheln, sey, sowie überhaupt die Nothlüge, gar recht, u. erlaubt. Ich konnte ihm dabei meinen Abscheu nicht bergen. Kleine, und noch dazu einfältige Menschen! [/] Fällt ihnen denn nicht auf, daß sie dem, welchem sie so etwas sagen, unter das Gesicht sagen: sie könnten wohl auch ihn belügen; und selbst das, was sie da sagen; könne eine Lüge seyn. – Kurz; ich glaube, daß er im Herzen, mich unendlich zu übersehen, glaubt, und mich hasset. Nun fürchtet er mich aber auch, weil er überhaupt ein furchtsamer Mensch ist; und glaubt, durch Tadel sich etwas zuzuziehen, weil er alle Menschen sehr natürlich für seines gleichen halten muß; er mag ferner vermuthen, daß Sie in Correspondenz mit mir sind: drum heuchelte er Ihnen.
Den trivialen Sup. Schlegel kenne ich sehr wohl. Er hat mir einst eines seiner theologisch꓿philosophischen Producte zugeschikt, dessen 1ster Theil in der L. Z. schlecht weggekommen war; mit der Bitte, den zweiten Theil zu loben, und dem ersten Rec. eins an das Bein zu hängen. Das that ich nun wohl freilich nicht: doch verschafte ich ihm einen humanren Recensenten. [/]
Damit dieser Brief nicht ganz leer sey, erlauben Sie mir eine Bemerkung über den physionomischen Eindruk, von welchem sie so oft sprechen. – Wer möchte diese Bedeutung des Aeussern läugnen? Aber so stark dadurch afficiret zu werden, ist meiner Meynung nach, eine kränkliche Reizbarkeit, der man entgegenarbeiten muß. Es scheint Gesez der Natur, und der Vft. zu seyn, durch diese Andeutungen sich aufmerksam machen, und leiten, nicht aber durch sie sich bestimmen zu lassen: und mit diesem Zweke wird denn wohl auch die Einwirkung derselben auf ein gesundes Organ überein kommen; dieser Eindruk wird ihm sich geben, aber nicht sich aufdringen. – Du sollst an der Perfectibilität keines Individuum, das Menschengesicht trägt, verzweifeln; ist erstes Gesez der gesellschaftlichen Sittenlehre.
Bouterweks Gewäsch habe ich gelesen. Habe ich in diesen Tagen noch einige Zeit, so beleuchte ich es.
Ihr
ergebenster
Fichte.
Briefkopfdaten
  • Datum: Dienstag, 2. Januar 1798
  • Absender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Empfänger: Johann Jakob Wagner ·
  • Absendeort: Jena · ·
  • Empfangsort: Göttingen · ·
Druck
  • Bibliographische Angabe: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 3: Briefe 1796‒1799. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1972, S. 110‒112.
Handschrift
  • Datengeber: Haus der Stadtgeschichte - Stadtarchiv Ulm
Sprache
  • Deutsch

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