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Karl Ludwig Pörschke to Johann Gottlieb Fichte

Königsberg den 2. Juli 1798.
Ihr gütiges Schreiben, nebst einem Exemplare von Ihrer Sittenlehre, habe ich den 27sten Juni erhalten. Doppelt theuer soll mir Ihr Werk seyn; durch den außerordentlichen Geist seines Verfassers, und durch des Gebers Wohlwollen gegen mich. Ich stehe hier in einer solchen Tiefe, daß mir schon wohl wird, wenn ich über mir Menschenstimmen vernehme. Sie rufen mich zu einer Thätigkeit auf, die mich wieder unter Menschen brächte, die den Rost der Einsamkeit von mir abputzte, und mich vielseitiger machte. Niemand hat einen entschiedenern Widerwillen gegen die Schriftstellerei, wenn ich eben nichts unter der Feder habe; habe ich aber einmal den Anfang gemacht, über eine Materie zu schreiben, dann arbeite ich ununterbrochen mit dem größten Vergnügen fort. Wer so viel wie ich auf einem dreibeinigen Stuhle, Katheder genannt, sitzen muß, und noch dazu einen Pfahl in seinem Fleische umher trägt, der sieht sich wohl lieber nach Erholungen und Geistesnaschwerk als nach Arbeit und Schiffszwieback um. Diesen Sommer halte ich sechs Vorlesungen; vier philosophische, ein historisches, und publice lese ich griechisch. Außer diesem lese ich von den andern noch drei so gut wie ganz umsonst; ein Geist der Ungründlichkeit ist über unsere Universität gekommen; Liebe zur Mathematik, Philosophie, Physik und zu Sprachen ist fast ganz dahin. Oft werde auch ich, ungeachtet meines Enthusiasmus zu lehren, über meinen Stand mißmuthig; ich vertauschte ihn gern gegen einen andern, aber wo fände ich den unbezahlbaren Schatz von Unabhängigkeit, den ich [/] bis jetzt so ganz unverkümmert genossen habe! Ich rechne daher, daß ich jetzt schon dreißig Jahre Student bin; immer habe ich auf meine Rechnung gelebt, Niemand hat von mir Notiz nehmen dürfen, und auch ich habe Niemanden aufgesucht. Ein alter Student von meiner Art ist ein sehr unbeugsames Wesen, das nach seinem Freiheitssinne an ein Gehalt vom Staate sogar mit Grauen denkt. Erwachte hier nur wieder die Liebe zu Wissenschaften, so wäre ich in meiner Lage der beneidenswürdigste Mensch. Habe ich nur erst diesen Sommer, und mit selbigem einen Hausgenossen, der mich schon über drei Jahre eingeenget hat, abgeschüttelt, so werde ich anfangen, Ihrer ehrenvollen Aufforderung mich würdiger zu machen. Seit anderthalb Jahren habe ich geschwelgt; ich habe die Alten gelesen, und dazwischen, leider, manchen Roman, und dann den Euklid, Friedrich 2., den Ariost, Born’s lateinischen Kant ec. und als täglichen Frohndienst folge ich der langen Frohnleichnamsprozession der Recensenten und Journalisten nach. Bald will auch ich die Feder ziehen; mir mache ich damit gewiß Vergnügen, wenn ich nur nicht andern lange Weile mache. Dieses wäre ungerecht, denn ich lese nichts für mich Langweiliges; auch meines Schulz mathematische Schriften, nur nicht seine philosophischen, müssen mich eben so gut wie Reisebeschreibungen unterhalten. Genug zum Beweise, daß ich ein Einsiedler bin; ich habe zu viel von mir geplaudert, das ist Uebermuth. Mein Haus ist mein Paradies, da habe ich Laien und Cleriker nach Herzenslust. Die Cleriker jenseits meines Ochsenmarktes sind mir fast alle so unausstehlich wie die Göttingischen Philosophen.
Der Herr Inspector Abegg brachte mir in der Karte von Ihnen Herzstärkung mit. Heute wollte ich ihn besuchen, er war zum Hofprediger Andersch gegangen, und wird, wie mir Jemand sagte, künftigen Freitag von hier abreisen. Er erzählte mir von Ihrem häuslichen Glücke, daß Ihnen ein Sohn geboren worden, daß Sie froh wären über diese [/] Ihre Fortsetzung. Er erbe von Ihnen den großen Geist der Philosophie; er wird weniger zu erobern finden als sein Vater; dafür werde diese eiserne Ruthe, womit das kleine und große Vieh geweidet wird, in seiner Hand ein Friedenszepter. Sie haben mit Ihren Gegnern hart, aber nicht ungerecht geredet; sie verdienten einen Todesspruch, sie sind im Grabe eben so nützlich wie über dem Grabe. So friedfertig als ich in meiner Höhle liegen, und auf alles Geräusch um mich her mit vollständiger Apathie horchen kann, so grimmig fahre ich heraus, wenn man mit Eselszungen und Gänsekielen mich necken wollte. Im Bürgerleben fordre ich den Terrorismus, und in der philosophischen Welt wünsche ich, daß alle Nachbeter und Raupen durch ihn vertilget werden. Ich danke Ihnen, würdiger Mann, daß Sie und Ihre Phthiotiker dieses peinliche Geschäft übernommen haben; ich freue mich um desto mehr darüber, je weniger ich durch meine epikurische Indolenz und durch mein Wohlgefallen an heiler Haut zu diesem Vertilgungskriege tauge.
Sollte denn keine Vereinigung der streitenden Kirchen in unsrer philosophischen Welt möglich seyn? Einige Ihrer Dissenter wären nach meiner Meinung wohl werth, daß Sie sich mit ihnen ausglichen, und gemeinschaftlich Hand an den Aufbau des Pantheons der Philosophie legten. Mit dem Schwerte an der Seite und dem Schilde am Arm baut man nur Jerusalems Mauern auf. Geben Sie Friede!
Kant wird wahrscheinlich nicht unsterblich seyn, weil man ihn schon jetzt für todt ausgiebt. Der Geburtshelfer Meckel aus Halle hat von ihm läppisches Zeug ausgebreitet; daß es mit ihm vorbei wäre, daß er sinnlos geworden. Meckel, der wohl besser Leibesfrüchte als Geistesfrüchte unterscheiden mag, hat bei seiner Durchreise nach Petersburg den offenherzigen K. besucht und seine unzeitigen Klagen über Bedrückung des Kopfes, durch die Trockenheit der Luft, anhören müssen. Darum ist Kant’s Geist noch nicht erstorben; [/] zum anhaltenden Denken ist er freilich nicht mehr geschickt; er lebt großen Theils nur von dem reichen Vorrathe seines Gedächtnisses; doch auch jetzt noch macht er oft ausnehmende Combinationen und Entwürfe. Da ich so oft vier Stunden ununterbrochen mich mit ihm unterhalten muß, so kenne ich seinen körperlichen und geistigen Zustand auf’s genaueste, er verhehlet mir nichts. Seinen Lebenslauf von seinen frühesten Kinderjahren an weiß ich aus seinen vertrauten Erzählungen; er hat mich mit den kleinsten Umständen seines Fortganges bekannt gemacht: dieses soll mir dienen, wenn einst die Biographen, wie Aasvögel, um sein Grab schreien werden. Auch hier hat mancher ein Leben des todten K.s neben Leichengedichten, in Bereitschaft. Da er keine Vorlesungen mehr hält, sich von allen Gesellschaften, außer dem Hause des Freundes Motherberg ausgenommen, zurückgezogen hat: so wird er allmählig auch hier unbekannt, selbst sein Ansehen wird geringer. Gedächte ich auch künftig nie seiner Philosophie, so werde ich doch nimmermehr seiner Wahrhaftigkeit und Herzensgüte vergessen. Außer einigen wohlwollenden Urtheilen über mich, und seinem Umgange, habe ich, glücklicher Weise, von ihm keine Gefälligkeit erhalten. Ich kann nie sein Andenken hassen.
Verlassen Sie sich darauf, daß ich Ihnen seinen letzten Schritt gleich melden würde... Ich schreibe bald wieder. Erhalten Sie Ihr unschätzbares Wohlwollen Ihrem aufrichtigen Verehrer.
Pörschke.
Metadata Concerning Header
  • Date: Montag, 2. Juli 1798
  • Sender: Karl Ludwig Pörschke
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Königsberg · ·
  • Place of Destination: Jena · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 3: Briefe 1796‒1799. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1972, S. 126‒128.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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