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Johann Caspar Lavater to Johann Gottlieb Fichte

♃ 7. II. 99.
Mein Lieber Fichte!
Ich erhielt gestern durch den würdigen Bürger Cramer Ihre Appellation, gegen die Anklage des Atheismus. Ich danke [/] Ihnen für dieses Geschenk, als Geschenk oder Gabe, u. als Innhaltreiches Geschenk.
Ich las es gleich, da ich eben einer Unpäßlichkeit wegen zu Hause bleiben mußte, und hätte wohl nichts mehr wünschen mögen, als daß Sie während dem Lesen unsichtbar hätten zugegen seyn, und in meiner Seele lesen können. Nicht nur zehnmal mehr Zeit als mir vergönnt ist, müßt’ ich haben, wenn ich alles sagen wollte, was ich dabey empfand und dachte; Ich müßte Fichtes Scharfsinn, und Fichtes Beredsamkeit haben, um alles so auszudrüken, daß ich mir eine beträchtliche Wirkung davon versprechen dürfte.
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So unmöglich es indeß ist, Ihnen den fünfzigsten Theil deßen, was ich sagen mögte, zu sagen, so wär’ es doch wahre Undankbarkeit, und Pflicht widrige Nüchternheit oder Trägheit, wenn ich nicht das eine und andere, was bey der Lektur dieser äußerst merkwürdigen Schrift, in meinem Inneren vorging, zur Sprache kommen liesse.
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Ihr Herz liebt die Wahrheit, und die Sprache der Wahrheit, wenn auch Ihr Verstand auf den Meinigen, von dem ich mit Aufrichtigkeit bekenne, daß er dem Ihrigen nicht an die Ferse reiche, mit einer Art von Mitleiden, herabzuschauen sich gedrungen sehen muß.
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Mein erstes Gefühl war Bedauren, daß man Sie diktatorisch angriff, daß man Sie nicht über Ihre Meynung erst befragte; daß man nicht den Weg achtungsvoller Humanität betrat.
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Aber, darf ich es mit der gleichen Freymüthigkeit sagen? Etwas mißbehaglich war ich: beym Lesen so mancher scharfen und bittern Stelle gegen Ihre Gegner. Ich kenne Diese freylich nicht persönlich; sie können sich, mehr als ich weiß, gegen Sie vergangen haben. Glauben Sie nicht, Lieber, für Ihre Person und die gute Sache, wär’ es besser gewesen, wenn Sie dieselben etwas gutmüthiger behandelt – und ihren Absichten mehr Gerechtigkeit hätten wiederfahren lassen? Sogleich auf der ersten Seite Ihrer Antwort in dem ersten Absatz nennen Sie Ihre Gegner „eine atheistische und abgöttische Parthey“ (S. 3). Das hieße allso, nach Ihrer eigenen Erklärung, dieser Parthey sagen: „Du bist nicht mehr als ein Thier!“ [/]
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Was Sie S. 13 als Sprache anführen, die jeder Ihrer Leser gehört haben soll – war mir sehr auffallend. Sie müssen, Lieber Fichte, in einem barbarischen Clima leben – wo man die Sprache höhren muß: „Selbstdenken ist die Quelle aller bürgerlichen Unruhen; hier, hier ist die Stelle, wo man das Übel mit der Wurzel ausrotten kann. Die einzige untrügliche Wahrheit, über die kein menschlicher Geist hinauskann, die keiner weitern Prüfung, Erläuterung oder Auseinandersetzung bedarf, ist schon längst fertig; Sie liegt aufbewahrt in gewißen Glaubensbekenntnißen; das Geschäft des Selbstdenkens ist schon längst für das Menschengeschlecht geschlossen: – so muß man sprechen. Diese Wahrheit auswendig zu lernen, sie unverändert wiederhohlen, und immer wiederhohlen, darauf muß man alle Geistesbeschäftigung einschränken; dann stehen die Thronen fest, die Altäre wanken nicht, und kein Heller geht an den Stollgebühren verlohren.“
Lieber Fichte, diese Sprache mag hie und da ein Hofschranz von der niedrigsten Klaße führen – herrschende Sprache Deutschlands kann sie gewiß nicht seyn. In unsern Landen hab’ ich sie wenigstens seit vielen Jahren nie gehört, und beweißt nicht die ganz enorme Freyheit, womit man seit zehn oder zwanzig Jahren, in Deutschland über alles schrieb, das Gegentheil?
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Daß Sie einem ähnlichen Schiksal, wie Vanini, entgegenzuarbeiten, oder vorzukommen, in Gefahr seyen kann ich nicht glauben, obgleich ich weiß, wie leicht man die Geschichte voriger Jahrhunderte vergeßen, und unter einer andern Gestalt wiederhohlen kann. Wäre aber je so etwas zu besorgen, auf welcher Seite wäre die Gefahr? Nach meiner Ueberzeugung gewiß nicht auf Seite der kritischen Philosophen; Wer ist, ohne allen Widerspruch, die herrschende? Und wer, die unterdrükte Kirche? Offenbar ist es die herrschende Philosophie durch welche die Kirche unterdrükt wird. „Worinn unterscheidet sich die herrschende philosophische Kirche von jeder gemeinen, orthodoxen, oder hierarchischen Kirche“ – gewiß nicht in Duldung und Schonung – gewiß nicht in Sanftmuth und Billigkeit gegen ihre kaum mehr sprechen dürfenden Gegner – welche Bände von inhumanen Urtheilen, Prostitutionen, bittern Verhöhnungen, unwürdigen Mißhand[/]lungen könnte man zusammen schreiben, um Belege davon darzulegen? Wie oft ist es den kritischen Philosophen schon zu Gemüthe geführt worden, und was hat es gefruchtet? und – laßen Sie mich es frey gestehen – gerade Ihre Appellation ist von dieser Härte und Intoleranz gegen anders denkende nichts weniger als rein.
Ich sehe kaum, wie Sie bitterer gegen Ihre Gegner seyn könnten, wenn diese bereits unsinnig und barbarisch genug wären – Sie, was nie geschehen wird, auf den Scheiterhaufen zu führen – Sie, Lieber Fichte, sind so sehr aufgebracht, daß man Sie des Atheismus beschuldigt, und Sie erlauben sich gegen andere unaufhörlich der Scheltworte Abgötter, Götzendiener, Atheisten, Lügner, unbarmherzige VerfoIger, Schöpfer eines heillosen Götzen, und nachdem Sie alle diese Ausdrüke an ihnen verschwendet, sagen Sie doch wieder, als ob Sie ein Spiel mit ihnen oder mit dem Leser trieben – „Es ist fern von meinem Herzen, sie auf eine gehäßige Weise mit dieser Benennung (Atheisten) zu benennen!“ – Und Sie vergeßen sich so weit, daß Sie noch hinzuthun – (S. 71.) „Und, was noch das Heilloseste dabey ist, sie glauben es selbst nicht, indem sie es sagen, sondern meynen nur, daß das ihr Gott gern höre, und wollen ihm nach dem Munde reden.“
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Lieber Fichte, wenn ich jezt das Vergnügen hätte, daß Sie neben mir säßen, daß ich meine Hand in die Ihrige legen, und Ihnen diese und so manche andere Stellen Ihrer Appellation vorlesen könnte – würden Sie es mir dann wohl übel nehmen, oder schief auslegen, wenn ich Sie mit aller Bescheidenheit, die einem so äußerst schwachen Geiste, gegen einen so äußerst Starken geziemt – aber auch mit aller Freymüthigkeit – ohne welche sich weder Redlichkeit, noch Männerwürde denken läßt, fragen würde:
„Schrieben Sie dieß als ein ruhiger Weiser? – Ist es nicht, als ob Sie mit Gewalt verfolgt werden wollten? (Denn wahrlich mein Lieber, die Unterdrükung einer Schrift, die irgend ein politisches Kollegium, so oder so qualifiziert, ist doch auch nicht eine so entsetzliche Verfolgung, so ungerecht diese Unterdrükung auch immer seyn mögte) Aber nun wenden Sie alle Ihre Beredsamkeit an, Ihre Gegner als schmachtend nach Ihrer Verfolgung darzustellen, darzustellen in einem so grellen, blendenden und flammenden Licht – Ihr alle Glaubens꓿ und Religions꓿Systeme der Welt mit einmal, und wie es den Anschein haben soll, [/] auf ewig verschlingendes System und das System Ihrer Gegner, so höchst Einseitig, und nach meiner Überzeügung so falsch darzustellen, daß, wenn dieselben, durch ein Wunder, in Kritische Philosophen, mithin in die allersüblimsten uneigensüchtigsten, Genuß, wie die Pest, fliehenden Moral꓿Ideale verwandelt, oder erlauben Sie mir den Ausdruk supranaturalisiert werden könnten – Sie doch kaum Sanftmuth genug besizen würden, Ihr Benehmen gegen sie, in dieser Appellation, human und billig zu nennen.
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Lieber Fichte, immer sizen wir noch neben einander – Hand in Hand, und ich frage Sie, als ein Mann und als einen Mann von Ehre, – ob Sie allen, die das kritische System nicht annehmen können, die es entweder nicht verstehen, oder aus wahren moralischen Gründen, aus Menschenkenntniß, aus tausend täglichen Erfahrungen – kurzum aus gesunder Vernunft, wie sie glauben, auf unzählige täglich vorkommende Fälle durchaus unanwendbar finden – mithin aus Pflicht und Gewißen, es für lächerlich, absurd, für gefährlich erklären müßen – ob Sie diesen allen, ins Angesicht alles das sagen dürften, was Sie ihnen nun vor aller Welt, mit einer so grellen Rohheit vorwerfen.“
Ich wenigstens Lieber Fichte, müßte es hart finden – oder wenn ich das gelindeste Wort brauchen sollte, Sprache der schwärmersten Schwärmerey nennen müssen, wenn Sie mir ins Angesicht sagen würden – „Du und dein Paulus und dein Jesus, sind Götzendiener, Götzenschaffer Atheisten, denn Ihr glaubt – und lehrt, nicht nur, daß Gott euch Nahrung gegeben sondern daß es auch eine Wohlthat sey, die Dank verdiene; Ihr seyt Thoren, daß Ihr aus Wohlthaten auf den Wohlthäter schließt und für Wohlthaten, als Wohlthaten, als schöne Genüsse, dankt. Euer Gott ist ein Geber alles Genußes, ein Austheiler alles guten, ein Geber aller guten Gaaben, der Belohner aller deren, die Ihn suchen, der positifste Verheißer einer unbegränzten Glükseeligkeit, Er ist nichts als die Liebe. Ich verdamme einen solchen Gott; ich halte ihn für einen Götzen, Begierdendiener, bemitleide und belächle Euch, als die allerschwächsten oder als die allerverruchtesten Verführte oder Verführer. Euch, wie Ihr immer heißen möget – LavaterPaulusJesus“ – Das sollten Sie mir, Lieber Fichte, Hand in Hand sagen – Sie Fichte – mir, und tausend Weisern und Bessern, als ich bin?
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Ob Jesus Cristus gesagt habe: „Leidet um der Wahrheit willen – Eüer Lohn wird groß seyn; die Barmherzigen werden Barmherzigkeit erlangen, keine That der Liebe wird unvergolten bleiben“ – das kann wohl keinem Zweifel ausgesezt seyn – keinem Zweifel ausgesezt, wenn Er’s gesagt hat, daß Er dadurch nicht von diesen Tugenden abschreken, sondern dazu ermuntern wollte, – wer an Christum glaubt, das ist, wer Sein Wort als das Wort der höchsten Wahrheit und Weisheit gelten läßt, muß allso jeden, der ihm Jesu, geradezu widerspricht – wenn er konsequent seyn will – für minder weise, minder wahrhaft erklären als Jesum, und jeder, der ihm Jesu diametral widerspricht, muß ihm folgendes zu sagen scheinen:
„Ich N. N. Kant, Fichte, Niethammer, oder wie ich immer heißen mag, halte mich für weiser und wahrhafter, als Jesum – den unzählige Menschen für den Weisesten und Wahrhaftesten hielten, und noch halten; Er hat geirrt und irre geführt, – Ich aber irre nicht, und führe nicht irre“ – ja, er ist verbunden zu sagen: – „Nicht Jesus nach – Menschen – Mir nach. Ich bin der gute Hirt – alle die vor mir kommen sind, sind Diebe und Mörder – Jesus ist ein Götzendiener, Atheist, Götzenschaffer – denn, wenn Eine Sylbe Seiner Geschichte wahr ist, so lehrte Er ganz ausdrüklich, so stark und ausdrüklich immer nur etwas gelehrt werden kann – einen vergeltenden, mithin belohnenden Gott – Er fügte Seinen Tugendlehren ermunternde Verheißungen bey – Er versprach Genuß – und wir verabscheüen jeden Genuß – wir – kritischen Philosophen – wir verabscheüen allso auch jeden, der diese abscheüliche Lehre vorträgt oder begünstigt – Jesus, wenn Er je ein Wort von Belohnung oder Genuß sprach zur Ermunterung im Leiden, oder zur Befestigung in der Pflichttreue, ist ein Verführer – wir sind das wahrhaftige Licht – nur Thoren können Jesu, nur Weise können uns nachwandeln.“
☉ Abends den 10. II. 99.
♂ Abend 12. II. 1799.

Lieber Fichte, können Sie es übel nehmen, hart finden, oder für gehäßige Konsequentzmacherey erklären, wenn man Ihnen solche Aüßerungen in den Mund legen würde? Sie sind zu verständig, zu ehrlich, [/] zu sehr Mann, zu sehr Held für Ihre Überzeugung, als daß Sie sagen würden: „Das eben angeführte liegt nicht in meinen Behauptungen.“ Und, wenn es in Ihren Behauptungen liegt, könnten Sie es dann hart, inkonsequent, verfolgungssüchtig, intolerant nennen, wenn Eltern oder Christenlehrer, oder christliche Regierungen, die an den Gott Jesu Christi zu glauben vorgeben, zu glauben wähnen, glauben, vor Ihnen warnen, Sie für einen gefährlichen Mann erklären, Schriften, die das lehren, verbieten, und ihre Söhne Ihrem Unterricht entziehen?
Sie, Lieber Fichte, die allein im Besize der Wahrheit zu seyn glauben, denen ein verheißender und belohnender Gott ein Dorn im Auge ist, die Ihn öffentlich als einen Götzen erklären, können sich freylich schwer darein finden, daß man Sie für einen Atheisten erklärt, da Sie sich doch so sehr gegen das, was Sie Atheismus heißen empören, da Sie doch einen, nach Ihrer Überzeugung, süblimern, wahrern, ja allein wahren Gott unterstellen.
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Wenn ich mich in beyder Partheyen Gesichtspunkt stelle, so ist mir nichts klärer, als: Beyde sind berechtigt, einander zu verurtheilen oder einander zu bemitleiden; Beyde müßen unbelehrbar seyn; Beyder Glaube ist unzertrennbar mit ihnen verbunden. Jeder Versuch der Vereinigung ist unmöglich. Jeder erbittert und entfernt nur. Es ist im Grunde derselbe Streit, wie zwischen Fenelon und Bosuett, über den ich noch einmal besonders mit Ihnen sprechen mögte.
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Nach meiner Schwachheit muß ich bekennen: Ihr Gott, und Fenelons Gott, obgleich Beyde unendlich verschieden, scheinen mir nicht der Gott zu seyn, deßen die Menschheit gerade izt bedarf oder fähig ist. Es giebt unter Millionen Menschen kaum Einen, der so über sich selbst hinausspringen, und bey Ihrem Gotte das allergeringste denken oder auch nur empfinden kann. Und ein Gott, bey dem man nicht das mindeste denken oder empfinden kann, ist nicht nur kein Gott, sondern für den, der nichts dabey denken und empfinden kann, ein absolutes Unding.
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Mehr kann ich diesmal nicht sagen; Ich darf den Ausdruk nicht brauchen: „So der Herr will und wir leben“ , obgleich es nach meiner Überzeugung gesprochen wäre – schreib’ ich Ihnen bald noch mehr, und bezeüge Ihnen zugleich theils über einige süblime Äüßerungen Ihrer [/] Appellation, theils über Ihre heldenmäßige Freymüthigkeit meine aufrichtige Freude.
Gruß Achtung und Bewunderung
12. II. 1799
Johann Caspar Lavater.
Sie verzeihen, daß ich diesen Brief, meiner Schmerzen wegen, theils im Bette, theils im Baade diktiren mußte.
Metadata Concerning Header
  • Date: 7. bis 12. Februar 1799
  • Sender: Johann Caspar Lavater ·
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Zürich · ·
  • Place of Destination: Jena · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 3: Briefe 1796‒1799. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1972, S. 187‒193.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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