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Johann Gottlieb Fichte to Karl Leonhard Reinhold

Jena, d. 22. April. 99. 1
Allerdings, mein Theuerster Freund, liegt in dem durch unsern Jacobi auf’s Höchste getriebnen Widerstreite der Hauptgrund der gegenwärtig eintretenden Misverständnisse. Noch ehe ich Jacobi’s Schreiben erhielt hatte ich für eine kleine Schrift, die vielleicht noch an das Licht kommt unter einer veränderten Gestalt, vielleicht auch nicht, das beiliegende entworfen. (Ich sage entworfen: es ist erster Brouillon, und ich habe jezt nicht Zeit oder Lust ihm eine bessere Gestalt zu geben)
Mein schriftstellerischer Unstern ist der, daß ich mich in die Denkart des lesenden Publicum so wenig zu versetzen weiß, daß ich immer so vieles voraussetze, als sich von selbst verstehend, das sich doch fast bei keinem von selbst versteht. – In diesem Punkte habe ich hierüber, wie mir es scheint, weniger gesündigt. In meiner Wissenschaftslehre, den Einleitungen zu derselben im Phil. Journ. den Einlei[/]tungen zu meinem Naturrechte; im ersten Hauptstüke meiner Sittenlehre, und wo denn nicht? – habe ich das Verhältniß der philosophischen Ansicht zur gemeinen mit aller mir möglichen Klarheit angegeben. Ich vergaß nur das von aller bisherigen Philosophie aus fest eingewurzelte Vorurtheil, nach welchem man Philosophie für Lebensweisheit hält, direct anzugreifen.
In den gegenwärtigen Streitigkeiten über die Gotteslehre wurde dieses Misverständniß in die Augen springend, u. bedeutend in seinen Folgen.
Ich kann mich bei meiner gegenwärtigen absoluten Unfähigkeit, und bei meinem Ekel an allem in den bekannten Streit einschlagenden, Ihnen vielleicht nicht deutlicher erklären, als so: Ich unterschreibe Jacobi’s Aeusserungen in ihrer ganzen Ausdehnung; habe alles, was er da [/] sagt, längst gewußt, und deutlich gedacht; und so innig es mich freut, daß Jacobi dieses trefliche Schreiben für mich schrieb, eben so unbegreiflich ist es mir, wie er glauben konnte, es gegen mich zu schreiben. Er kennt das Wesen der Speculation so innigst; u. eben so das Wesen des Lebens; warum kann er nu<r> nicht kalt über beide sich erheben u. sie gegen einander halten? Warum muß er entweder in dem Standpunkte der Spekulation gefangen seyn, „so daß er sich schämt, seine Einwürfe gegen mein System vor sich selbst auszusprechen“ – oder in einem andern Momente aus dem Standpunkte des Lebens der vollendeten Speculation, die er selbst für solche anerkennt, spotten, sie verwünschen, u. verabscheuen? Da er selbst auf seine Individualität in gedrukten Schriften, u. in jenem Schreiben sich bezieht, so ist es vielleicht erlaubt, diesen, bei der Einsicht ohne ih[/]res gleichen unbegreiflichen Widerstreit aus seiner Individualität zu erklären. Er verbittet sich den logischen Enthusiasmus; mit Recht: ich verbitte mir ihn gleichfals. Aber es scheint ein entgegengesezter Enthusiasmus, den ich den des wirklichen Lebens nennen möchte, in ihm zu wohnen, der es ihm garnicht erlaubt, auch nur zum Versuche kalt u. gleichgültig von demselben (wirklichen Leben) zu abstrahiren; u. dieser scheint aus dem psychologischen Phänomen, wovon er in der 3ten Beylage zu der zweiten Auflage der Briefe über die Lehre des Spinoza spricht, sich erklären zu lassen. Ich glaube gar keinen Enthusiasmus zu haben, weder den erstern, noch den zweiten, u. halte diese Apathie für schlechthin nothwendig, um den transscendentalen Idealismus ganz zu verstehen, und durch ihn nicht entweder zur Heillosigkeit verleitet, oder durch ihn geärgert zu werden. [/]
Eben des wegen halte ich auch, theuerster inniggeliebtester Freund, dessen Wahrheitsliebe ich tief verehre, Ihre gegenwärtige Wendung, (falls ich Sie nemlich recht verstehe; Ihren Brief aber zu studiren ist mir gegenwärtig unmöglich) nicht für richtig, und zu neuen Verirrungen führend. Es giebt, meiner innigsten Ueberzeugung nach, keinen Standpunkt des Philosophirens zwischen dem Jacobi’schen, und dem meinigen. Jacobi wird dies läugnen, eben so wie ich; und sein Sendschreiben enthält mehrere Stellen, die es, nur nicht mit diesen Worten, läugnen. Die kurze leichte Bemerkung, die ich so eben über den Unterschied der Speculation, u. des wirklichen Lebens machte, ist höchstens eine Maxime des Philosophen, der denn doch zugleich Mensch ist, u. bleibt; aber kein Theil seiner Philosophie. Seine Philosophie ist unabhängig von seinem Leben u. sein Leben von seiner Philosophie. [/]
Theurer, darf ich ganz aufrichtig, so wie ich es verstehe, mit [Ihnen] reden, wie ich so eben von Jacobi redete, u. auch mit ihm reden werde? – Sie haben vom Anfange Ihrer philosophischen Schriftstellerei an eine praktische Wärme im Philosophiren gezeigt, (wie Jacobi sie gegen die Philosophie hat) die Ihnen nicht aus der Kantischen, sondern aus Ihrer vorherigen Philosophie kam, welche vielmehr Sie zur Kantischen, von der Sie sich einen bessern praktischen Effect versprachen, geleitet hat. Sie haben immer die Hofnung gehegt, und hegen sie noch, die Menschen durch Philosophie zu bessern, und zu bekehren, sie über ihre Pflichten in diesem Leben, und über ihre Hofnungen in jenem zu belehren. Es wird Ihnen klar, daß dies durch den wissenschaftlichen Idealismus ebenso wenig, als durch die vorherigen Sy[/]steme möglich ist, ja daß dieser die Verwirrung u. das Skandal auf’s höchste zu treiben droht; und darum – so scheint es mir – suchen Sie diesen in der Mitte liegenden Standpunkt.
Ich hingegen glaube, einer der besondern Vorzüge des wissenschaftlichen Idealismus liege darin, daß er sich selbst wohl kennt, und auf jenen erhabnen Zwek demüthig Verzicht thut. Nur was aus dem Leben kommt, vermag das Leben zu bilden; aber der Idealismus ist das wahre Gegentheil des Lebens. Sein eigentlicher Zwek ist Wissen, um des Wissens willen: Sein praktischer Nutzen ist nur mittelbar: pädagogisch, im weitesten Sinne des Worts.
Philosophie auf Denkart, u. Gesinnung bezogen, ist mir absolut Nichts. Die Frage, ob die Philosophie als solche, atheistisch sey, oder nicht, verstehe ich nicht; und sie ist mir mit der: ob ein Triangel roth oder grün, süß oder bitter sey, völlig gleichgeltend. Ich kann in der Beschuldigung des Atheismus für ein [/] nur wirklich philosophisches System, wofür ich das meinige halte, keinen Sinn finden, als den: sie begründe eine Pädagogik (Religionslehre) die atheistisch sey; – sie führe zu einer atheistischen Denkart. – Wie es sich damit in Absicht meines Systems verhalte, das dürften wohl vor der Hand noch äusserst wenige Personen angeben können. Es ist ein Verstoß, worüber man, so Gott will, nach einigen Jahren lächeln wird, daß man schon jezt meine Philosophie in dieser Rüksicht [hat] beurtheilen wollen, und daß es – totale Unphilosophen wollten. Es ist ein Schiksal, das denn ohne Zweifel seine heilsamen Folgen haben wird, daß diese Sache ganz gegen meine Neigung, u. Plan schon jezt zur Sprache gekommen. – Ein Schiksal: sage ich. Ich wollte den Forbergischen Aufsaz nicht aufnehmen; u. widerrieth ihm als Freund dessen [/] Bekanntmachung. F. ließ sich nicht rathen. Als Herausgeber, u. insofern Censor die Aufnahme pro auctoritate zu verweigern ist gegen meine Grundsätze; die so fest sind, daß, ohnerachtet dieses Ausgangs der Sache, ich doch ähnlichen Aufsätzen die Aufnahme nie verweigern würde.
Ich wollte den Aufsaz mit Noten unter F’gs., Texte versehen. Fg. verbat sich dies; u. in diesem einzigen Stüke war ich vielleicht nicht vorsichtig genug. Ich faßte, was ich in den Noten sagen wollte, in einem eignen Aufsaz zusammen: und dieser Aufsaz hatte diesen Erfolg.
Ich habe nemlich meine Stelle – wie soll ich sagen? – verloren, oder aufgegeben. Man hat sich dabei auf eine unbegreifliche Weise betragen; welche zu erzählen hier zu weitläufig seyn würde. In kurzem wird die Geschichte dem ganzen Publikum bekannt seyn. Mir thut es weh, daß ich nicht sagen kann; ich habe ganz Recht, und jenes Geschlecht ganz [/] Unrecht. Gegen sie freilich habe ich volles Recht; aber nicht vor mir selbst. Ich hätte mich mit ihnen nicht auf ihrem Felde einlassen sollen; u. darum geschieht mir ganz Recht daran, daß sie mich überlistet haben.
Jedoch – so viel zu Ihrer Beruhigung – als Atheist werde ich nicht vertrieben.
Ich habe Actenstüke zu sammlen, u. zu ordnen; ich habe meine häuslichen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen; ich habe ein Asyl zu suchen, in welchem ich einige Zeit ganz unbekannt, sicher vor litterarischen, u. politischen Neuigkeiten, vor denen ich einen unüberwindlichen tödlichen Ekel habe, und gedekt vor den Bannstralen der Priester, und den Steinigungen der Gläubigen, eine Muße geniessen könne, die für meine Selbstbildung nicht verloren seyn soll. [/]
Ich werde jedoch höchst warscheinlich noch so lange hier aushalten müssen (es ist ein hartes Muß, denn Sie können es sich kaum denken, wie man sich gegen mich beträgt) daß ich von Ihnen noch einen Brief erhalten, u. Ihnen zurük schreiben könne. Wegen der FerienZeit bitte ich Sie unbesorgt zu seyn. Ich habe nun Ferien auf immer.
Ich habe nichts dagegen, daß Ihr Schreiben an mich bis S. 19. abgedrukt werde. – Lavater hat auch an mich geschrieben. Jenes gemeinschaftliche Misverständniß über die wahre Bedeutung der Philosophie abgerechnet, hat er auch noch einen Autoritätsglauben an Jesus, Paulus, u. s. f. noch eigentlicher, an seine Züricher Bibeldolmetschung, der mir es unmöglich macht, seine Begriffe zu berichtigen. Ich habe ihm nur kurz geantwortet, daß er mich eben nicht [/] verstünde, u. ihm eine ausführlichere Antwort versprochen, welche ich ihm nunmehro wohl, bei meinem Ekel gegen diese ganze Materie, werde schuldig bleiben müssen.
Gruß, innige Hochachtung, u. treue Liebe.
Fichte.
P. S. – Der Senat hat keinen Schritt gethan, um mich der Universität zu erhalten: wohl aber haben, wie ich soeben vernehme, die Studirenden sich in Unterhandlung mit dem Hofe gesezt, und ihm sehr zugesezt.
Sollte Ihnen von hier aus, oder irgend woher, da man es doch nur von hier aus haben könnte, die Erzählung meiner Dimission geschrieben werden, so glauben Sie nichts, schlechterdings keinem. Theils ist ein Hauptumstand keinem bekannt, wird es durch mich auch nicht werden; ich kann nur soviel sagen: hier ist eine Lüke, die ich nicht füllen kann. Theils hat der Hof durch seine Emissarien aller Urtheil getrübt, u. bestochen. Nur von Studenten habe ich richtig urtheilen hören; die doch der eigentlich verlezte Theil sind, und sich dafür halten.
Nachschrift.
So eben erhalte ich Ihren Brief v. 16. April. Ausser den von Jacobi citirten Stellen des Phil. Journ. könnte wohl noch näher Forberg, Phil. Jour. 97. siebentes Heft. S. 220. Veranlassung zu dieser sonderbaren Citation des Generals gegeben haben. Da steht nun meine Rechtfertigung gleich dabei in der untenstehenden von mir nothwendig gefundenen, und verfaßten Note.
Ich halte diesen Vorfall doch nicht für so bedenklich. Theils wird diese Rede in Deutschland nicht sehr bekannt werden. Jacobi wird sie nicht, eben so wenig als das vom General gegen seinen Sohn Gesprochne, verbreiten.
Daß in dem Forbergischen Aufsatze der Kantische wahre skeptische Atheismus durchsehe, muß allerdings dem Kenner gestanden werden; u. darauf zielte eben mein Ausdruk in der Vorrede: Fbg. sey meiner Ueberzeugung nicht sowohl entgegen, als daß er sie nicht erreiche. In meiner gerichtlichen Verantwortungsschrift habe ich mich über die schlimmste Stelle Fbgs erklärt; so deutlich, als ich es konnte, ohne Fbg. gegen den ohnedies [/] alles sich richtet, u. welchem man alle Schuld beimessen möchte, bürgerlich zu schaden. – Erklären Sie sich doch darüber. Daß das Kantische als ob ganz gegen mein System ist, ist wahr, u. klar.
Was ich oben über Ihre gegenwärtige philosophische Tendenz gesagt, ist nicht sowohl so zu verstehen, als ob das, was mir nicht ganz gegründet scheint, schon jezt sich klar äusserte, als aus Befürchtung, daß es Sie in Zukunft auf Abwege führen möchte. Vielleicht verstehe ich Sie auch nicht recht, u. Sie sind mit der Beilage; die meine ganze Ueberzeugung über diesen Punkt enthält, einverstandner, als ich geglaubt habe. Ich schreibe mit derselben Post an Jacobi ganz kurz; ohngefähr dasselbe, was ich Ihnen geschrieben, schike ihm auch die Beilage; u. sende ihm den discours des General zurük.
Ich empfehle mich Ihrer Liebe, u. versichere Sie der wärmsten Gegenliebe, u. Hochachtung.
Fichte
Fragment.
– – Ich muß an das Wesen der Transcendental=Philosophie wieder erinnern, und ersuche das philosophische Publikum, diese Erinnerung die letzte seyn zu lassen.
Es giebt zwei sehr verschiedene Standpunkte des Denkens; den des natürlichen und gemeinen, da man unmittelbar Objekte denkt, und den des vorzugsweise sogenannten künstlichen, da man mit Absicht und Bewußtseyn sein Denken selbst denkt. Auf dem ersten steht das gemeine Leben und die Wissenschaft (materialiter sic dicta) auf dem zweiten die Transcendental=Philosophie, die ich eben deßwegen Wissenschaftslehre, Theorie und Wissenschaft alles Wissens (keinesweges aber selbst ein reelles und objektives Wissen) genannt habe. [/]
Die philosophischen Systeme vor Kant kannten großentheils ihren Standpunkt nicht recht, und schwankten hin und her zwischen den beiden so eben angegebenen. Das unmittelbar vor Kant herrschende Wolfisch=Baumgarten’sche System stellte sich mit seinem guten Bewußtseyn in den Standpunkt des gemeinen Denkens, und hatte nichts Geringeres zur Absicht, als die Sphäre desselben zu erweitern, und durch die Kraft seiner Syllogismen neue Objekte des natürlichen Denkens zu erschaffen.
Diesem Systeme ist das unsrige darin gerade entgegengesetzt, daß es die Möglichkeit, ein für das Leben und die (materielle) Wissenschaft gültiges Objekt durch das bloße Denken hervorzubringen, gänzlich ableugnet, und nichts für reell gelten läßt, das sich nicht auf eine innere oder äußere Wahrnehmung gründet. In dieser Rücksicht, in wiefern die Metaphysik das System reeller durch das bloße Denken hervorgebrachter Erkenntnisse seyn soll, läugnet z. B. Kant, und ich mit ihm die Möglichkeit der Metaphysik gänzlich; er rühmt sich, dieselbe mit der Wurzel ausgerottet zu haben, und es wird, da noch kein verständiges und verständliches Wort vorgebracht worden, um dieselbe zu retten, dabei ohne Zweifel auf ewige Zeiten sein Bewenden haben.
Unser System, indem es die Erweiterungen Anderer zurückweiset, läßt sich eben so wenig einfallen, selbst an seinem Theile das gemeine und allein reelle Denken erweitern zu wollen: sondern es will dasselbe lediglich erschöpfend umfassen und darstellen. – Unser philosophisches Denken bedeutet nichts, und hat nicht den mindesten Gehalt; nur das in seinem Denken gedachte Denken bedeutet und hat Gehalt. Unser philosophisches Denken ist lediglich das Instrument, durch welches wir unser Werk zusammensetzen. Ist das Werk fertig, so wird das Instrument als unnütz weggeworfen.
Wir setzen vor den Augen der Zuschauer das Modell eines Körpers aus den Modellen seiner einzelnen Theile [/] zusammen. Ihr überfallt uns mitten in der Arbeit, und ruft: Seht da das nackte Gerippe; soll nur dies ein Körper seyn? – Nein, gute Leute, es soll kein Körper seyn, sondern nur sein Geripp. – Nur dadurch wird unser Unterricht verständlich, daß wir einzeln Theil an Theil, einen nach dem andern, anfügen; und deßwegen allein haben wir die Arbeit unternommen. Wartet ein wenig, so werden wir dieses Gerippe mit Adern und Muskeln und Haut bekleiden.
Wir sind jetzt fertig, und ihr ruft: nun so laßt doch diesen Körper sich bewegen, sprechen, das Blut in seinen Adern circuliren; mit einem Worte: laßt ihn leben! Ihr habt abermals Unrecht. Wir haben nie vorgegeben, dies zu vermögen. Leben giebt nur die Natur, nicht die Kunst; das wissen wir sehr wohl, und glauben gerade dadurch vor gewissen andern Philosophien zu unserm Vortheile uns auszuzeichnen, daß wir es wissen. – Wenn wir irgend einen Theil anders bilden, als er in der wirklichen Natur ist, irgend einen hinzuthun, irgend einen mangeln lassen, dann haben wir Unrecht; und darauf müßt ihr sehen, wenn ihr uns einen verständigen Tadel oder Lob ertheilen wollt.
Der lebendige Körper, den wir nachbilden, ist das gemeine reelle Bewußtseyn. Das allmählige Zusammenfügen seiner Theile sind unsre Deductionen, die nur Schritt für Schritt fortrücken können. Ehe nicht das ganze System vollendet dasteht, ist alles, was wir vortragen können, nur ein Theil. Die Theile, auf welche dieser letztere sich stützt, müssen freilich schon vor euch liegen; sonst haben wir keine Methode; aber es ist nicht nothwendig, daß sie in derselben Schrift vor euch liegen, die ihr jetzt eben leset; wir setzen euch als bekannt mit unsern vorherigen Schriften voraus. Wir können nicht alles auf einmal sagen. – Was aber auf den jetzt eben euch vorgelegten Theil folge, das habt ihr zu erwarten; falls ihr nicht etwa es selbst zu finden versteht. [/]
Wenn wir aber auch, und wo wir vollendet haben, und bis zum vollständigen reellen und gemeinen Denken fortgerückt sind (wir haben es in mehrern Regionen des Bewußtseyns, nur noch nicht in der Religionsphilosophie), ist dasselbe, so wie es in unsrer Philosophie vorkommt, doch selbst kein reelles Denken, sondern nur eine Beschreibung und Darstellung des reellen Denkens.
Ausdrücklich und ganz bestimmt durch das Nichtphilosophiren, d. h. dadurch, daß man zur philosophischen Abstraktion sich entweder nie erhoben hat, oder von der Höhe derselben sich wieder in den Mechanismus des Lebens herabläßt, entsteht uns alle Realität; und umgekehrt, so wie man sich zur reinen Spekulation erhebt, verschwindet diese Realität nothwendig, weil man sich von dem, worauf sie sich gründet, dem Mechanismus des Denkens, befreit hat. Nun ist das Leben Zweck, keinesweges das Spekuliren; das letztere ist nur Mittel. Und es ist nicht einmal Mittel, das Leben zu bilden, denn es liegt in einer ganz andern Welt, und was auf das Leben Einfluß haben soll, muß selbst aus dem Leben hervorgegangen seyn. Es ist nur Mittel, das Leben zu erkennen.
Worin man befangen ist, was man selbst ist, das kann man nicht erkennen. Man muß aus ihm herausgehen, auf einen Standpunkt außerhalb desselben sich versetzen. Dieses Herausgehen aus dem wirklichen Leben, dieser Standpunkt außerhalb desselben ist die Spekulation. Nur in wieferne es diese zwei verschiedene Standpunkte gab, diesen höhern über das Leben neben dem des Lebens, ist es dem Menschen möglich, sich selbst zu erkennen. Man kann leben, und vielleicht ganz gemäß der Vernunft leben, ohne zu spekuliren; denn man kann leben, ohne das Leben zu erkennen; aber man kann nicht das Leben erkennen, ohne zu spekuliren.
Kurz – die durch das ganze Vernunftsystem hindurchgehende, auf die ursprüngliche Duplicität des Subjekt=Objekt sich gründende Dupli[/]cität ist hier auf ihrer höchsten Stufe. Das Leben ist die Totalität des objektiven Vernunftwesens; die Spekulation die Totalität des subjektiven. Eins ist nicht möglich ohne das andere: das Leben, als thätiges Hingeben in den Mechanismus, nicht ohne die Thätigkeit und Freiheit (sonst Spekulation), die sich hingiebt; kommt sie auch gleich nicht bei jedem Individuo zum deutlichen Bewußtseyn; die Spekulation nicht ohne das Leben, von welchem sie abstrahirt. Beide, Leben und Spekulation, sind nur durch einander bestimmbar, Leben ist ganz eigentlich Nicht=Philosophiren; Philosophiren ist ganz eigentlich Nicht=Leben; und ich kenne keine treffendere Bestimmung beider Begriffe als diese. – Es ist hier eine vollkommene Antithesis, und ein Vereinigungspunkt* ist eben so unmöglich, als das Auffassen des X, das dem Subjekt=Objekt, Ich, zu Grunde liegt; außer dem Bewußtseyn des wirklichen Philosophen, daß es für ihn beide Standpunkte gebe.
* Dergleichen neuerlich durch Jacobi’s Einspruch gegen die Spekulation verleitet, Reinhold, wenn ich seinen letztern Brief recht verstehe, zu suchen scheint.
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  • Date: Montag, 22. April 1799
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Karl Leonhard Reinhold
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Kiel · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 3: Briefe 1796‒1799. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1972, S. 325‒333.
Manuscript
  • Provider: Badische Landesbibliothek
Language
  • German

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