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Karl Dresler to Johann Gottlieb Fichte

Jena den 26sten Nov.
1799.
Sie ertheilten mir vor Ihrer Abreise von hier die gütige Erlaubniß, Ihnen zuweilen meine weiteren Versuche im Fortschreiten auf dem Wege der Wahrheit, den ich unter Ihrer Leitung zuerst betrat, zur Prüfung vorlegen zu dürfen. Dürfte ich wohl noch hoffen, daß der Mann, der zuerst den Jüngling zur Selbständigkeit im Denken auffoderte, ihn auch noch ferner bey seinem weiteren Forschen mit seinem Blicke zu begleiten würdigte? bey seinem Streben, die Grundsätze, welche ihn die idealische Philosophie lehrte, insbesondere für den philosophischen Theil seiner Wissenschaft herabzuführen, und den historischen dazu zu erheben? Glücklich würde ich mich dann achten, nicht blos auf allgemeine geistige Verbindung mit Ihnen, worauf jeder Ihrer wah[/]ren Schüler ein Recht hat, Anspruch machen zu dürfen, sondern auch noch zuweilen durch Ihre schriftliche Belehrung den Verlust Ihrer mündlichen einigermaßen wenigstens für mich ersetzt zu sehen.
Sie wissen schon durch Keiser, daß wir uns zu dem Unternehmen vereinigt haben, mit gemeinschaftlichen Kräften das Gebiete der Rechtswissenschaft zu bearbeiten. Das höchste Ziel unsrer Bemühungen muß hierbey immer das seyn, zur Veredlung der Menschheit, zur Aufklärung derselben über ihr wahres Interesse, dem einzigen Mittel zur Realisirung der Foderungen der Philosophie, hinzuwirken. Unsre ganze Aufmerksamkeit heischt daher unter andern auch die Politik. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen jetzt über diesen Gegenstand einige meiner Ideen vorlege.
Das Naturrecht ist in Hinsicht auf die positive Gesetzgebung blos postulirend; aber durch das Gesetz müssen die Foderungen desselben realisirt werden. Allein das Gesetz ist nicht Resultat einer zusammenhängenden philosophischen Reflexion; es ist Product des Bedürfnisses, und kann daher [/] nur eben so allmählig sich entwickeln, als dieses sich äußert.
Durch diese nur allmählige Vollendung des großen Kreißes einer rechtlichen Verfassung in der Geschichte, den uns die Philosophie aus der blosen Idee eines rechtlichen Verhältnisses auf einmahl geschlossen und vollendet dahinwirft, entsteht eine doppelte Beziehung der Philosophie auf die positive Rechtswissenschaft. Es entstehen nehmlich dadurch die beiden Fragen: 1.) auf welchem Standpunkte steht die Gesetzgebung in Hinsicht auf die Foderungen der Vernunft? – und 2.) wie ist die positive Gesetzgebung auf den von der höchsten Rechtsphilosophie bezeichneten Punkt hinzuleiten? Die erste Frage ist Aufgabe der Critik der positiven Gesetzgebung, die aber bei ihrem Geschäfte blos die innere Consequenz zum Maßstabe der Beurtheilung nehmen darf; die zweite ist Aufgabe der Politik.
Dieß wäre die Politik eines bestimmten einzelnen Staates, so wie Sie in Ihrem Naturrechte den Begriff derselben aufgestellt haben. [/] Aber sollte nicht auch eine allgemeine Politik möglich seyn, eine Wissenschaft, die uns die allgemeinen Triebfedern des Entstehens und Ausbildens jeder Staatsverfassung in ihrem Wirken aufdekte, die uns den großen nothwendigen Gang der ganzen Menschheit im allgemeinen entwickelte?
Der Weg dieser Wissenschaft müßte gerade der umgekehrte des Naturrechtes seyn. Das Naturrecht geht von der Persönlichkeit des Ich aus, und leitet daraus die Nothwendigkeit einer bestimmten äußeren rechtlichen Verfassung her; es geht also von dem Einzelnen zum Ganzen über. Die Politik müßte von dem Ganzen der Menschheit anheben, hieraus den Ursprung und das allmählige Fortrücken der Staaten entwickeln, und zuletzt mit der vollkommnen juridischen Persönlichkeit des Individuums, die erst in der vollendeten Ordnung des Ganzen erreicht wird, endigen.
Und warum sollte eine solche Wissenschaft nicht möglich seyn? Ist doch selbst die Geschichte dem idealen Auge nichts anders, als die allmählige [/] Entwicklung der Gesetze, die in der Intelligenz selbst liegen. In ihrer individuellen Bestimmtheit, die sie gerade zur Geschichte macht, kann sie freilich nie Philosophie werden; allein die Philosophie muß doch die allgemeinen Gesetze ihres Ganges aufzeigen können.
Nur dann, wenn sich ein Gesetz, wenn sich eine Nothwendigkeit in der Geschichte der Menschheit voraussetzen läßt, hat jene Idee Realität.
Dieses Gesetz müßte in dem Zwecke der Menschheit selbst liegen. Zweck der Menschheit ist Darstellung ihrer selbst in der Vollendung[.] Sie kann sich aber nur darstellen in der Individualität, und hieraus entsteht nothwendig eine Wechselwirkung der Individuen, eine beständige Action und Reaction. Die Individuen, für sich frey, müssen in dieser Hinsicht doch als jenem höheren Gesetze untergeordnet betrachtet werden. Inhalt bekommt jenes blos formale Gesetz der [/] Wechselwirkung erst durch das Naturbedürfniß. Von hieraus erhebt sich die Menschheit in einem ewigen Kreißlaufe, der durch beständiges Verschlingen in sich selbst, sich immer mehr erweitert.
Die Menschheit hebt in ihrer Wechselwirkung von absoluter Freiheit an, die aber eben dadurch absolute Nothwendigkeit ist. In der Wechselbeschränkung der Freiheit und Nothwendigkeit, die eben durch ihre Beschränkung erst einander entgegengesetzt werden, besteht der ganze Organismus des Fortschreitens der Menschheit, bis zu dem Punkte, wo beide im Rechte im vollkommnen Gleichgewichte dargestellt erscheinen, (die Action in der Executivgewalt, die Reaction im Ephorate.) Aber nicht eher ist dieß möglich, als bis auch nach außen in der politischen Cultur das Gleichgewicht wieder vollkommen hergestellt ist. Dann erst wird jeder einzelne Staat seinen eignen Lauf vollenden können, und die Freiheit des Individuums durchaus gesichert seyn. So muß von dem Einzelnen auf das Ganze, und von dem [/] Ganzen auf das Einzelne zurückgewürkt werden.
Dieß ist die Idee, die einer solchen Wissenschaft etwa zum Grunde liegen müßte. Sollte diese Idee wohl ausführbar seyn?
Verzeihen Sie die Länge dieses Briefes dem Wunsche Ihrer Belehrung über jenen mir so wichtigen Gegenstand. Nur die Güte, mit der Sie bisher sich für meine litterarische Ausbildung interessirten, konnte mich berechtigen, mir auch hierüber Ihre Meinung auszubitten.
Leben Sie recht wohl. Ich bin
Ihr ergebenster
J. K. J. Dresler.
Hern Profeßor Fichte
In der Friederichsstraße, zwischen den Linden,
und der Behrenstraße, in Violets Hause.
zu
Berlin
Metadata Concerning Header
  • Date: Dienstag, 26. November 1799
  • Sender: Karl Dresler
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Jena · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 4: Briefe 1799–1800. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1973, S. 159‒162.
Manuscript
  • Provider: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz
  • Classification Number: B 200
Language
  • German

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