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Johann Gottlieb Fichte to Ignaz Aurelius Fessler

Geliebter Bruder,
Indem ich Ihnen die versprochnen Bemerkungen, welche ich auch Fischern mitzutheilen bitte, übersende, ersuche ich Sie, dieselben ernsthaft, gründlich, und systematisch so [/] lange zu durchdenken, bis Sie entweder von der Wahrheit derselben überzeugt sind, oder sie gründlich, vor sich selbst und vor mir, widerlegen und aufheben können. Ich wünschte aber nicht, daß Sie mit der Entscheidung darüber eilten.
Sie verzeihen es vielleicht meiner brennenden Begierde, gemeinschaftlich mit Ihnen für die Vervollkomnung unsers Geschlechts zu arbeiten, wenn ich die höchstwarscheinlich überflüßige Bitte und Beschwörung hinzufüge: daß doch ja nicht Rechthaberei, Gelehrten-Eifersucht, Widerstreben etwas zurükzunehmen, zwischen uns trete! Ich habe mich von neuem durchaus geprüft, und glaube mich von der reinsten Wahrheits Liebe beseelt, wünschend, daß Sie Recht, und ich Unrecht hätte, fertig, erbötig dieses zu gestehen, sobald ich es einsehe, und mit Eifer in Ihre Plane hineinzugehen; und ich würde mein falsches Herz mir aus dem Busen reißen, wenn es mich hierüber täuschte.
Es umarmt Sie herzlich
Ihr
Fichte.
V. H. d. 28. May
800.
Bemerkungen.
I.
Wozu will der Maurer eine Geschichte seines Ordens, die ihm noch über [/] dieß als lezter Aufschluß über diesen Orden gelte? Etwa lediglich, um wie ein gelehrter Geschichtsforscher ein, noch dazu nicht besonders interessantes Kapitel aus der Menschengeschichte, – das über geheime Verbindungen – zu lernen?
Ich meine: nein –
sondern um einzusehen, wie diese bestimmten Gebräuche und Formeln, die ihm im O. überliefert worden, entstanden sind, – u. sie dadurch erst ganz zu verstehen. Seine Geschichte muß seyn eine genetische Deduction der bestehenden Mysterienfeyern; so wie z. B. eine Staatengeschichte eine genetische Deduction der bestehenden Staatsverfassungen seyn muß.[1]
So steht die Aufgabe. – – Es sind mir gewisse Gebräuche und Formeln überliefert worden: dies ist unmittelbares Factum, wovon ich ausgehe. Wie sind diese so geworden;[2] [/] wie ist das nächste, woraus sie wurden, so geworden; und dessen nächstes, und hinwiederum dessen nächstes, und so fort, soweit man in das Alterthum hinauf steigen kann: daß sonach von dem gegenwärtigen Zustande bis zu dem grausten Alterthume hinauf eine ununterbrochne Kette entstehe, in welcher jedes spätere Glied aus seinem nächsten frühem folge, und dadurch erklärt werde. So wäre die Geschichte gründlich. Kein Gebrauch, kein Ausdruck müste hier unerklärt bleiben: so wäre sie vollständig, u. befriedigend.[3]
Ich frage den Br. F. ob er auf seinem Wege durch die öffentliche Geschichte dieser Foderung zu entsprechen sich getraue?[4]
II.
Kann man sich vernünftiger Weise in einen geheimen Orden aufnehmen lassen, um am Ende nichts weiter zu erhalten, als was jederman ebenso wohl ausser dem Orden durch Studium erhalten kann?[5] [/]
Getrauen Sie sich wohl
a. dies öffentlich bekannt zu machen, und
b. zu erwarten, daß irgend ein vernünftiger Mensch noch die Aufnahme in Ihr System begehren werde?[6]
Wenn es nicht in dem Orden etwas giebt, das nur im Orden, und ausser ihm schlechthin nicht anzutreffen ist, so kann man vernünftiger Weise nicht hineintreten: scheint mir ein unwidersprechlicher Grundsaz.[7] [/]
Zwar kann Br. F. sagen: ich gebe allerdings etwas, das gegenwärtig nur ich geben kann, die Zusammenstellung und Combination von Thatsachen, welche leztern freilich in öffentlichen Denkmälern niedergelegt sind.[8] Und insofern ist denn der B. F. Professor historiarum, und die welche seine lezten Aufschlüsse erhalten, Studenten, und die Maurerei ein historisches Collegium. Kann sie dies seyn?[9] [/] Kann nicht, indem wir noch darüber reden und schreiben, irgend ein Geschichtsforscher sich dieselbe Aufgabe geben, die Br. F. sich gegeben hat?[10] Kann er sie nicht ohngefähr auf dieselbe Weise lösen, und sein Werk drucken lassen? Wozu nun das Geheimhalten von Etwas, das morgen gedrukt seyn kann?[11]
III.
Br. F. scheint, seinen mündlichen Aeußerungen zu Folge historische Wahrheiten nirgends anzu[/]nehmen; und dieses kann aus dem subjektiven Grunde begreiflich seyn, daß er einen großen Theil seiner Forschungen auf ein Gebiet gewendet, in welchem allerdings äußerst wenig von dieser Wahrheit anzutreffen ist. Ich bin hierüber von der entgegengesezten Meinung; und dieses ist ein Punkt, über welchen durch Philosophiren und Disputiren sich etwas ausmachen läßt; und nach dessen vorläufiger Erörterung sich auch wohl ergeben dürfte, daß auch bei der Geschichte der Philosoph eine Stimme hat, und auch über Thatsachen mit sprechen darf.[12] Davon jedoch abgesehen, möchte ich den Br. F. bitten, sich auf sein Gewissen zu fragen, ob es nicht andere Thatsachen giebt, an die er fester glaubt, als an die in seiner Apolytrosis vorgetragenen;[15] [/] ob er wohl überhaupt selbst so recht daran glaubt; ob er, wenn sich über diese Gegenstände etwas zur Gewißheit bringen ließe, wohl etwas ansehnliches darauf verwetten wolle, daß es sich so verhalten habe, wie er angiebt;[14] ob er wohl, wenn die Sache es sonst zuließe, sich getrauen würde, seine historische Deduction der Welt in offenem Drucke vorzulegen, ohne etwas für seine Gelehrten-Reputation zu befürchten.[15] Bei einer Behandlung der Geschichte, da man schon vor der Untersuchung vorher im Auge hat, was man beweisen will, – alles aufnimmt, was für unsre Sache ist, und alles liegen läßt, was gegen sie ist, kann man schlechthin alles beweisen, was man will; und ich will jede Wette eingehen, daß auf diese Weise ich gerade so gründlich und bündig meine Abstammung von Alexander dem Grossen darthun könne.[16]
IV.
Ich wünschte, daß Br. F. die Güte hätte, neben diesen Bemerkungen auch noch den Theil meiner lezten Vorlesung, wo ich die geheime Geschichte der öffentlichen entgegen stelle, ernsthaft zu durchdenken, und zu untersuchen, ob man nicht auf diese Weise der öffentlichen Geschichte durchaus glüklich ausweiche.[17] [/] Fiction gegen Fiction würde ich immer für die durchaus consequente und auf dem Wege der Geschichte unwiderlegbare, entscheiden:[18] [/] diese so einrichten, daß sie für den klügern Kopf zugleich Allegorie wäre; und dem, der es erräth, freimüthig das wahre Geheimniß, und wie wir alle zu unsern Kenntnissen gekommen sind, gestehen. Ich finde, da nun einmal eine FreiMaurerei ist, schlechthin nichts unerlaubtes, Jesuitisches, keine piam fraudem in einem solchen Verfahren; ich halte mich dabei durchaus für den geraden ehrlichen und offenen Mann, der ich Zeitlebens war, und seyn werde: dies aber nur deswegen, und so lange, weil und wie lange ich bereit seyn werde, jedem der fähig ist, es zu tragen, die wahre Bewandniß mitzutheilen.[19]

Metadata Concerning Header
  • Date: Mittwoch, 28. Mai 1800
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Ignaz Aurelius Fessler
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 4: Briefe 1799–1800. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1973, S. 245‒248.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

Weitere Infos ·