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Karl Leonhard Reinhold to Johann Gottlieb Fichte

[…] Bey Ihnen versteht es sich von selbst, daß Sie sich durch die widerlichen und feindseligen Zufälligkeiten, welche im Grundrisse häufig genug – vom Titel und der Dedikation bis ans Ende – vorkommen, nicht hindern lassen werden, das Wesentliche herauszufinden. In der That war mir die Manier seines Polemisirens, und der Widerwillen der dabey gegen Kant, Sie, Schelling und mich selbst zu Tage gelegt wird, nicht wenig empörend. Aber ich bemerkte eben dieses mein Empörtwerden zeitig genug, um gegen den Einfluß desselben auf meine Beurtheilung des Verfassers und Buches auf meiner Hut zu seyn. Ich ließ mir vielmehr seinen Unwillen, der ihn hinderte, insbesondere gegen Kant gerecht zu seyn, und von Fichte zu lernen, zur Warnung dienen. Die Neigung zu glauben, „daß ich aus diesem Buche nichts von Be[/]lang lernen könne[“], kostete mir indessen Mühe genug, ehe sie bey Seite geschafft war. Noch mühesamer war, und ist mir noch das reine Lernen aus diesem Buche, ohne welches doch kein reines Verstehen möglich ist. Es mußte dabey der Voraussetzung: dasselbe könne für mich nichts wesentliches Unbekanntes enthalten, entsagt werden. Ich mußte mein Selbstdenken einstellen, um dem Verfasser Schritt für Schritt nachzudenken, und mir durch Ihn vordenken zu lassen, – den Sinn seiner Worte, den Zusammenhang seiner Sätze, u.s.w. nur allein in Ihm selber aufzusuchen, und aus Ihm selber zu finden, ohne dabey mein bisheriges Lehrgebäude, als Exegeten, oder Exponenten zu gebrauchen. Dabey mußte ich also schlechterdings von Ihrem Systeme, und was davon mein Eigenthum geworden seyn mag, abstrahiren, und alles, was in demselben, und durch dasselbe für mich ausgemacht gemacht war, inzwischen, ohne davon bey der Auslegung des Grundrisses Gebrauch zu machen, dahingestellt seyn lassen. Dieß alles forderte, und fordert noch immer, Zeit, und kömmt mich nicht wenig sauer an. Aber ich brauchte nur das, was Bardili über die bisherigen Mängel, Knoten, und Lücken unsrer Logik sagte, zu verstehen und zu beherzigen: so fühlte ich tief, daß es der Mühe werth sey zu thun, was man thun muß, um das Uebrige zu verstehen, als bloßer Lehrling eine Zeitlang bey Ihm in die Schule zu gehen, wie ich ein paar Jahre hindurch bey Ihnen gegangen bin. […]
Metadata Concerning Header
  • Date: September/Oktober 1800
  • Sender: Karl Leonhard Reinhold
  • Recipient: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Place of Dispatch: Kiel · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 4: Briefe 1799–1800. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1973, S. 315.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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