Single collated printed full text with registry labelling
TEI-Logo

Johann Gottlieb Fichte to Johann Baptist Schad

29. December 1801.
[...] Was Professor Schelling betrifft, so ist mir das, was Sie mir gütigst melden, nicht unbekannt gewesen. Ich hoffe, meine zu Ostern erscheinende neue Darstellung [/] soll sein Vorgeben, daß er mein System, welches er nie verstanden hat, weiter geführt, in seiner ganzen Blöße darstellen. Es mag wohl seyn, daß seine Naturphilosophie, indem er darauf auszugehen scheint, die Erscheinung völlig zu vernichten, sich auf meine Metaphysik nicht bauen ließ. Und was soll man zu seinem neuen – verklärten! – Spinozismus sagen, in welchem er glücklich das Absolute unter Quantitätsformen existiren läßt, wie es Spinoza freilich auch thut und aller Dogmatismus. Kann derjenige, der die wahre Quelle des ganzen Quantitätsbegriffes und mit ihm aller Mannigfaltigkeit so wenig kennt, jemals gewußt haben, was der kritische Idealismus sey?
Freilich hat Schelling dieses nie gewußt. Er gibt es nun deutlich an den Tag, daß er geglaubt, die Wissenschaftslehre leite das Ding von dem Wissen vom Dinge ab, und daß er ehemals mit seinem eigenen Idealismus es wirklich also gemeint; daß er sonach die Wissenschaftslehre so verstanden, wie sie Fr. Nicolai auch versteht. – Es hat mir großes Vergnügen gemacht, aus einigen Recensionen der Erlanger Literaturzeitung, die von Ihnen sind, zu ersehen, daß Sie, mein würdiger Freund, dieses Vorurtheil, das ich nun beinahe für allgemein halten muß, nicht theilen. Meine neue Darstellung, denke ich, wird demselben ein Ende machen. Sie wird zeigen, daß das Absolute (welchem eben darum, [/] weil es das Absolute ist, kein Prädicat, nicht das des Wissens oder Seyns, ebenso wenig der Indifferenz beider, hinzuzufügen ist) zu Grunde gelegt werden müsse: daß dieses in sich selbst als Vernunft sich äußere, sich quantitire, in Wissen und Seyn sich spalte und in dieser Gestalt erst zu einer ins Unendliche verschiedenen Identität des Wissens und Seyns werde. Erst auf diese Weise kann das ἓν ϰαὶ πᾶν feststehen, aber nicht so, wie bei Spinoza, daß er das ἓν verliert, wenn er zum πᾶν kommt, und das πᾶν, wenn er das ἓν hat. Nur die Vernunft hat das Unendliche, weil sie das Absolute nie fassen kann; und nur das Absolute, das aber nie, außer formaliter, in die Vernunft eintritt, ist das Eine, durchaus nur qualitative, nie quantitative u.s.w.
Leben Sie wohl.
Fichte.
Metadata Concerning Header
  • Date: Dienstag, 29. Dezember 1801
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Johann Baptist Schad ·
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Jena · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 5: Briefe 1801–1806. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Erich Fuchs, Kurt Hiller, Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1982, S. 100‒102.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

Basics · Zitieren