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Johann Gottlieb Fichte to Joseph Rueckert

Ihr zweites Schreiben vom 18ten d. M. giebt mir die guten Hoffnungen von Ihnen, mein würdiger Freund, wieder, die Ihr vorhergehendes einiger Maaßen erschüttert hatte. Denn Sie wissen doch, daß Sie mir in diesem ersterwähnten Alles zu= und deßwegen Ihr System aufgeben?
Meine Bemerkungen treffen blos die Darstellung. Doch aber nicht die bloße Stellung und Fassung und die Wortzeichen dessen, was [Sie] wirklich sagen, sondern doch wohl die innere Klarheit Ihrer eigenen Einsicht in das, was Sie allerdings sehr richtig meinen mögen – kurz Ihr Sichselbstverstehen? Für den Philosophen – nicht für den Menschen – ist Klarheit Wahrheit, und wenn Sie den Mangel der ersten zugeben, so geben sie den der zweiten gleichfalls zu.
Ehe Sie an Ihre neue Darstellung gehen, auf welche ich mich sehr freue, erlauben Sie mir den Wink, daß Sie sich vorher völlig über Anschauung und Anschaulichkeit in’s Reine setzen möchten. Was Sie nicht sich und dem Leser construiren, das ist weder Ihnen völlig klar, noch wird es [/] Ihrem Leser klar, und alles vermeinte Verstehen und Beistimmen ist Täuschung.
Ein Beispiel will ich Ihnen geben an den drei Sätzen, von denen Sie sagen, daß sie Ihnen zur höchsten Evidenz gestiegen seyen. Es kann seyn, denn sie haben insgesammt eine Seite, von welcher aus sie wahr sind, aber aus Ihren Aussagen geht nicht hervor, ob Sie diese Seite ergriffen haben, und sie meinen.
Z. B. Alle Realität kann nur erfahren, nicht a priori demonstrirt und erkannt werden. Dies ist ganz richtig, wenn vom Besondern der Realität die Rede ist. Aber was ist nun die Realität überhaupt? Nichts, durchaus nichts, als eben die Gränze des freien Construirens; und ein besonderes wird ohne Zweifel nicht gesetzt ohne das Allgemeine. Mithin kann ich eben sowohl auch umgekehrt sagen: Keine Realität kann (philosophisch) erfahren, sondern alle muß a priori demonstrirt und construirt werden. Beide Sätze sind daher einseitig, und erst in der Vereinigung beider liegt die Wahrheit.
„Mein X (in A+X) müsse im Fortgange ein bekanntes werden.“ Eben, und dennoch durchaus unbegreiflich bleiben: und wie sich dies vertrage, müssen Sie eben wissen, wenn Sie ein Meister in Israel sind; denn dies ist gerade die Aufgabe der Philosophie: eben das Zeichen + ist das Bewußtseyn, und das Durchdringen dieses + eben die Philosophie!
Haben Sie das zweite Heft des kritischen Journals N. II. gelesen? Sie werden sich in Ihrer Darstellung doch nicht durch solches Gerede stören lassen?
Leben Sie wohl und seyen sie glücklich auf der Bahn des Forschens!
Metadata Concerning Header
  • Date: Ende September 1802
  • Sender: Johann Gottlieb Fichte ·
  • Recipient: Joseph Rueckert
  • Place of Dispatch: Berlin · ·
  • Place of Destination: Leipzig · ·
Printed Text
  • Bibliography: Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abteilung III, Bd. 5: Briefe 1801–1806. Hg. v. Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung v. Erich Fuchs, Kurt Hiller, Peter K. Schneider und Manfred Zahn. Stuttgart 1982, S. 148‒149.
Manuscript
  • Provider: Handschrift verschollen
Language
  • German

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