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Caroline von Schelling to Gottfried Philipp Michaelis

[Marburg] Mittwoch früh d. 22 Jun. [17]91.
Ich denke nicht ohne wahre Beklemmung an euch alle – es muß eine unerträgliche Verstimmung da herrschen, und die Vernunft ist auf keiner Seite rein! Keiner geht einen graden entschloßnen Weg – äußre Einflüße haben wenigstens über seine Laune Gewalt, und die Laune wieder über die Verfahrungsart. Bedauernswürdiger ist niemand wie die Mutter, troz aller Fehler, die sie begangen haben mag – sie möchte gern alles vereinigen – das beste Mittel alle Unannehmlichkeiten auf sein Haupt zu laden. Meine Schwestern geb ich auf, denn ich seh nicht ab, wer, oder was sie beßern sollte, und in sich selbst werden sie nie Billigkeit und Mäßigung finden. Verbrenn dies, wenn Du nicht Übel ärger machen wilst. Daß sie mich nicht mehr hören, ist bey Louise vorübergehend, bey Lotten die natürliche Folge einer Verdorbenheit, die sie gegen sich selbst zu rechtfertigen sucht, es koste, was es wolle – auf neue Lüge gründet sie ihre Festigkeit, nachdem die alte, der Traum ewiger Anhänglichkeit, verdunstet ist. Ihre ganze Kraftlosigkeit zeigte sich, da sie anfing sich die erste Täuschung zu gestehn – die Schritte, die sie that, um sich in Zerstreuung zu begraben, da sies mit der kühlen Erde doch nicht rathsam fand, haben ihr alle Weiblichkeit und Delikateße geraubt – ein Ding, von dem sie noch immer spricht – aber wovon spricht sie nicht? Ich weiß nicht, welcher Herabwürdigung sie nachdem nicht fähig seyn sollte. Ihr Haß gegen mich, den ich immer in ihr ahndete, aber so lang ich ihr glaubte nüzen zu können, nicht achtete, brach nun mit allen Symptomen des Neides aus. Sie hätte mir gern geschadet – wo ihrs aber länger, wie auf die Vierthelstunde gelingt, wo man ihre Schildrung belacht, und sie zugleich verachtet, da ist der Schade freylich der Müh nicht werth. Meyer schrieb mir neulich von ihr: „Lotte hat Temperament, eine Eigenschaft, die ich immer geschäzt habe. Was in ihren Charakter fehlerhaft geworden ist, komt daher, daß man sie hat verschmachten laßen. Vielleicht wären wenig so gute Menschen, wenn sie in ihrem 18ten Jahr die Frau eines derben Dragoners geworden wäre, jezt sind manche Unarten zu tief eingewurzelt, als daß das größte Glück, was ihr begegnen kan – ein Mann, sie gut machen könte, und findet sie keinen, so giebts einen Teufel von einer alten Jungfer.“ Amen! leider Gottes! Wahr ists, der Zufall that alles sie zu verderben, wenn ich die erste Anlage auch mit zum Zufall rechne. Weiblicher – jungfräulicher – Stolz hätte ihre frühe Jugend vor den Netzen des abgefeimten Verführers bewahrt – den kante sie nie. Ihre Blüthe welkte in verzehrender, nie befriedigter Leidenschaft hin – so wie sie war, konte sich nie ein Mann ernstlich und daurend an sie heften – denn man sage, was man wolle, um wirklich zu feßeln, muß man nüzlich beglückende Eigenschaften besitzen. Wo sie einen anzog, entgieng er ihr, da sie ihn eben erreichen wollte. Selbst der Schwächling, wenn er Verstand hat, kan doch nur dadurch gehalten werden, daß man seiner Schwäche zu Hülf komt – und ihre Stärke ist Spiegelfechterey. So nuzte sie sich ab – in ihrer Coquetterie ist nichts jugendliches. Sie macht sich eine gewiße Achtung glauben, die die Menschen für sie hätten, überredet sich deß mit aller Gewalt – es wär leicht sie zu desabüsiren, aber wozu könt es helfen? beßern würd es sie nicht. Kozebue spricht nachtheilig von ihr – Föltersohm [?] schäzt sie, sogar ihren Verstand, troz ihren Confeßionen gering – (er sagte mir das nicht, dazu ist er zu fein, ich las es in einen Brief an Schlegel) u. so weiter! Ihr Schicksaal wird schrecklich seyn, wenn der liebe Gott des alten Dieterichs Herz nicht lenkt, um ihr zu ersezen, was er ihr Unrecht that – noch schrecklicher aber das der Mutter, die die Last auf dem Hals behält.
Will Louise 10 oder 11 Monat nach Gr. Abreise noch zu mir kommen, so soll mirs lieb seyn. Sag ihr aber noch nichts. – Nach allem, was mir Brentano erzählt, der übrigens auch ein zweydeutiges und als zweydeutig nie grade zu verwerfliches Wesen ist – ists mir unbegreiflich, wie ein vernünftiger schlichter Mensch Große sehn und hören und an ihn glauben konte. Der Satan war im Spiel, und stelte sich hinter euren Mangel an Weltkentniß.
Dir möcht ich auch Wahrheiten sagen, wenn ich wüßte, daß Du eine gute Stunde hättest sie zu hören. Welch ein Ideal von Engelsfan[ta]sie war denn Mad. Bürger zu Anfang, und nun? Und ich wette, jezt muß es wieder das ganze Geschlecht entgelten! Dein früher Umgang mit ihm, Deine voreiligen Ansprüche, die sich von daher schreiben, wie Du als ein kleiner lockichter Bube Marianne und Miss Schlözer ins Concert zu führen prätendirtest, haben Dir freylich großen Schaden gethan. Was könt Ihr von Verbindungen erwarten, die sich auf bloße Eitelkeit, auf die rege Hofnung zu gefallen, und die vorschnelle Ueberzeugung, übergewöhnlich gefallen zu haben, gründen? Männer wirst Du wie Weiber unzuverläßig finden, wenn Eigennuz die erste Angel war. Du wirst sagen, was beweißt das, außer daß die Menschen elend sind – statt einer Hälfte des Menschengeschlechts? Das ist schon etwas – denn man kan sich doch über die nothwendige Unvollkommenheit des Geschlechts überhaupt eher beruhigen. Wer darüber wollte zum Schwermüthigen oder zum Haßer werden, wär wenigstens um nichts stärker wie der gemeine Haufen. Die traurigsten Erfahrungen werden einen Muth nicht dämpfen, der in unsern eignen Busen die Quelle des schöneren Glaubens findet, auf den er sich unverrückt, in Ueberzeugung der Möglichkeit gut zu seyn, troz der tausende, die schlecht sind, stüzen kan.
Seit kurzem ist wahrlich erst für mich die Periode eingetreten, wo ich von Erfahrungen sprechen kan – ich hatte ihrer wenig. Sie machen mich weder betrübt noch irre. Niemand, der einen so tiefen Abscheu vor allem Niedrigen hat, kan mit mehr Elendigkeiten umringt seyn, wie ich. Ich will Dich doch mit einigen Aneckdoten regaliren – die freylich weit genug von mir liegen – damit Marburg Dir nicht aus der Kunde kömt. Baldinger hat denn die Trebbin geheyrathet. Die Handeln ist um ihren Verstand geprügelt. Handel und Nebel sind Thiere und nehmen lauter thierische Streiche vor. – Mlle Wiederhold hat eine tragische Catastrophe erlebt. Ihr Bräutigam kam von den Eltern das Jawort zu holen, ein Hr. Schulz von Bovenden. Darüber ergrimmte ein andrer Liebhaber, und stieß sie in der Nacht zwischen 2 und drey Uhr mit einem Brodmeßer in den Leib – darauf jammerte es ihn, und er gab sich selbst drey Stiche, die nur um wenig Zoll das Herz verfehlten. Die Verwundeten leben aber annoch, und sind nicht gefährlich beschädigt. – Hr. von Berger …
[Bogenende.]
Metadata Concerning Header
  • Date: Mittwoch, 22. Juni 1791
  • Sender: Caroline von Schelling ·
  • Recipient: Gottfried Philipp Michaelis ·
  • Place of Dispatch: Marburg · ·
  • Place of Destination: Harburg, Elbe ·
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Caroline von: Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz vermehrt hg. v. Erich Schmidt. Bd. 1. Leipzig 1913, S. 214‒217.
Language
  • German

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