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Caroline von Schelling to Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer

M[ainz] d. 27. Oct. [17]92.
Wenn Sie etwa glauben, daß man nicht mit Sicherheit hieher schreiben kan, so irren Sie sich – es sey dann, daß in Berlin ein Brief nach Mainz jezt für high treason gerechnet würde. Mir wird die Zeit lang zu wißen, wie Ihr gerechter Zorn wieder in Sanftmuth übergegangen ist. Ich hoffe, so leicht wie wir in Feindes Hand – wenn wir unsre höflichen wackren Gäste anders Feinde nennen können. – Welch ein Wechsel seit 8 Tagen – General Custine wohnt im Schloß des Churfürsten von Mainz – in seinem Prachtsaal versammelt sich der Deutsche Jacobiner-Club – die National-Cocarden wimmeln auf den Gaßen. – Die fremden Töne, die der Freiheit fluchten, stimmen vivre libre ou mourir an. Hätte ich nur Geduld zu schreiben und Sie zu lesen, so könt ich Ihnen viel erzählen. – Wir haben über 10 000 Mann in der Stadt, und es herrscht Stille und Ordnung. Die Adlichen sind alle geflohn – der Bürger wird aufs äußerste geschont – das ist Politik, aber wenn die Leute des gueux et des miserables wären, wie man sie gern dafür geben wolte – wenn nicht strenge Disciplin statt fänd – wenn nicht der stolze Geist ihrer Sache sie beseelte und sie Grosmuth lehrte, so würds unmöglich seyn, so alle Ausschweifungen, alle Insulten zu vermeiden. Die Leute sehn sehr delabrirt aus, weil sie lang im Feld lagen, aber arm sind sie nicht, und Mann und Pferd wohl genährt. Der Zustand der combinirten Armeen hingegen – Göthe, der den Ausdruck nicht zu übertreiben pflegt, schreibt seiner Mutter – keine Zunge und keine Feder kan die traurige Verfaßung der Armee schildern – und ein preusischer Offizier sagt: la situation imposante de leurs armées, et la déplorable de la notre. – Custinens Schritte sind so berechnet – er findet nirgends Wiederstand – hat nichts zu fürchten – ne vous fiés pas à vos armées mourantes, sagte er bey den Unterhandlungen. Frankreich ist geräumt, Longwy und Verdun zurückgegeben – die Belagerung von Lille aufgehoben – Montesquion und Custines ohne Blutvergießen siegreich – und was mich mehr wie alles freut, die Marrats in der Nationalversammlung nach Verdienst gebrandmarkt. Ich glaube jezt dorthier kan man sich des Spotts nicht erwehren – man macht Projekte – man haranguirt – gestikulirt nach den 4 Weltgegenden hin – will das Volk aufklären. Ein Werkzeug ist mein Schwager George Böhmer, der seine Profeßur in Worms aufgegeben hat, und so was von Secretair bey Custine ist. Mir sank das Herz, wie ich den Menschen sah – o weh – wolt und könt Ihr den brauchen? aber wen kan man nicht brauchen? Die sich bey solchen Gelegenheiten vordrängen, sind nie die besten. – Ich kan Ihnen Forsters Betragen nicht genug rühmen – noch ist er bey keinem der Institute – er macht seinen bisherigen Gesinnungen Ehre, und wird vielleicht mit der Zeit den Ausschlag zu ihrem Vortheil geben. Der Mittelstand wünscht freilich das Joch abzuschütteln – dem Bürger ist nicht wohl, wenn ers nicht auf dem Nacken fühlt. Wie weit hat er noch bis zu dem Grad von Kentniß und Selbstgefühl des geringsten sansculotte draußen im Lager. Der Erwerb stockt eine Weile, und das ist ihm alles – er regrettirt die sogenannten Herrschaften, so viel darunter sind, die in Concurs stehn und die Handwerker unbezahlt ließen. Aber nur eine Stimme ist über den Priester – er sieht gewiß sein schönes Mainz nicht wieder, wenn es auch, wies wahrlich sehr zweifelhaft ist, seine Thore dem Nachfolger öffnete. Custine bevestigt sich, und schwört den Schlüßel zu Deutschland nicht aus den Händen zu laßen, wenn ihn kein Friede zwingt. Kaum 4 Monat sinds, wie sich das Concert des puissances versammelte um Frankreichs Untergang zu beschließen hier – wo nun auf dem Comödienzettel steht: mit Erlaubniß des Bürgers Custine.
Ich hab eine Hausgenoßin, lieber M., seit 8 Tagen – eine Landsmännin – die Forkel. Man hat sie mir nicht aufgedrungen – ich habe selbst die erste Idee gehabt. Sie wißen vielleicht, daß sie unter Protektion des Forsterschen Hauses steht. Ich kante sie beynah gar nicht – hab aber keinen Haß gegen Sünder, und keine Furcht für mich. Was sagen Sie dazu? Sie hat sich hier immer gut aufgeführt – hat sie je ganz ein solches Urtheil verdient wie in Bürgers Brief stand? – Und doch ist mir kaum daran gelegen das zu wißen – das kan mir ja einerley seyn – aber haben Sie sie außer Liebeshändeln falsch und intriguant gefunden? Das könte mich inkommodiren – denn ich weiß nicht, ob meine schlichte und ununternehmende Ehrlichkeit hinreicht, da Spize zu bieten. Die Frau gefällt mir bis jezt – ich bin gut mit ihr – da man das seyn kan, ohne sich hinzugeben, so seh ich nicht, warum ich damit nicht den Anfang machen sollte. Sie kennen sie, und können mir mehr Licht geben.
Adieu, lieber Meyer. Schreiben Sie doch bald. Wie gefallen Ihnen Forsters Erinnerungen? Reichard hat einen Revolutions-Allmanach geschrieben, der künftig Jahr nicht zu brauchen seyn wird.
Metadata Concerning Header
  • Date: Samstag, 27. Oktober 1792
  • Sender: Caroline von Schelling ·
  • Recipient: Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer
  • Place of Dispatch: Mainz · ·
  • Place of Destination: Berlin · ·
Printed Text
  • Bibliography: Schelling, Caroline von: Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz vermehrt hg. v. Erich Schmidt. Bd. 1. Leipzig 1913, S. 274‒276.
Language
  • German

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